Brinkmanns Orte: Olevano

Neben Rom gibt noch einen zweiten zentralen Ort in der Zeit von Brinkmanns italienischem Aufenthalt 1972/73: Olevano Romano. Die Kleinstadt auf dem Monte Celeste bildet in vielerlei Hinsicht ein Gegenmodell zur lärmenden Metropole und steht zudem für die späte, aber nachhaltig wirkende Auseinandersetzung des Autors mit Denkbildern der deutschen Romantik in Kunst und Literatur. Ein Beitrag zur Reihe “Brinkmanns Orte” von Roberto Di Bella.

Relektüren des Romantischen.
Rolf Dieter Brinkmann in Olevano Romano

Brinkmanns Materialheft Rom, Blicke – 1972/73 entstanden und 1979 als erster der Nachlassbände veröffentlicht – erlangte rasch für viele Leser kultisches Prestige und gilt bei aller Divergenz der auch kritischen Meinungen als Schlüsselwerk der bundesdeutschen Literatur der siebziger Jahre.  Die Bewertung des Buches in Feuilleton wie Wissenschaft konzentriert sich fast ausschließlich auf seine Zeit als Stipendiat der Deutschen Akademie – Villa Massimo bzw. seine Äußerungen über Rom und ordnet das Buch insbesondere als „rasendes Anti-Italienpamphlet“ (Michael Zöllner), voller Hasstiraden vor allem auf den zum „bildungsbürgerlich-sentimentalische[n] Klischee und touristische[n] Versatzstück heruntergekommenen Italien-Mythos“ (Wolfgang Lange).

Dabei verwandeln gerade Brinkmanns Briefe an seine Frau Maleen beispielsweise, so die Literaturkritikerin Insa Wilke Rom, Blicke, „sooft als Zeugnis von Aggression und Welthass gelesen, in eine der anrührendsten Liebesgeschichten der Literatur dieser Zeit“ (FAZ, 14. Juli 2012). Ebenso übersehen (oder ausgeblendet) wird bei der Analyse, dass es auf den 450 Seiten des Buches nicht nur um die titelgebende italienische Hauptstadt geht. Olevano, rund 60 Kilometer östlich von Rom in den Monti Prenestini gelegen, bildet deshalb nicht nur real das Gegenstück zu Rom, sondern wirkte sich nachhaltig auch auf Brinkmanns Schreiben aus.1Für die bei den Brinkmann-Zitaten verwendeten Siglen vgl. die folgende Aufschlüsselung: Acid → Acid. Neue amerikanische Szene (1969) ■ BH → … Continue reading

 

Drohnenflug über die italienische Kleinstadt Olevano Romano (Dauer: 3’06”)

Nach Olevano (die Betonung liegt auf dem e), jenem „Dorf-Stadt-Zwitterwesen“ (RB 351) von mehreren Tausend Einwohnern, dessen Gemeindegebiet sich auf bis 700 m Höhe erstreckt21971 zählte die Gemeinde 6.114 Einwohner, 40 Jahre später sind es mit 6.733 nur unwesentlich mehr. Quelle: ISTAT – Bevölkerungsstatistiken … Continue reading, hatte sich Brinkmann erstmals vom 20. Dezember 1972 bis zum 2. Januar 1973 zurückgezogen. Die Aufenthalte in der dortigen so genannten Casa Baldi, einer Nebenstelle der Villa Massimo, wiederholten sich bis zum Ende seines Italien-Aufenthaltes Ende Juli/Anfang August 1973.3Siehe RB 349–448 sowie die Hinweise in BH 195f. Noch heute dient die Casa Baldi den bundesweit durch die „Villa-Massimo-Jury“ ausgezeichneten … Continue reading Brinkmanns Stipendium dauerte fast ein ganzes Jahr, genauer gesagt von Oktober 1972 bis ca. Ende August 1973. Die Briefe und Postkarten in Rom, Blicke erfassen somit nur ein knappes Viertel des Aufenthaltes.4Brinkmann löste sein Bahnticket nach Rom am 4. Oktober 1972 und fuhr am 14. Oktober von Köln los (vgl. RB 6; Abb. 42). Zur Rückkehr nach … Continue reading Oder anders gesagt: mit rund Hundert Seiten machen die Aufzeichnungen aus und über Olevano immerhin fast ein Viertel des Gesamtumfangs von Rom, Blicke aus.

Olevano kommt bei Brinkmann zunächst nicht besser weg als Rom oder Köln, sei es, was die Aggressivität betrifft, die er über die Jagdtraditionen der Gegend wahrnimmt („In jeder Jahreszeit Gewehre und Schüsse. / Die Schrotpatronen kommen aus Deutschland“, WWa 91/WWb 130), sei es durch den allgegenwärtigen Einfluss des Fernsehens („Auf jedem Dach sind Fernsehantennen, / obwohl viele Häuser erledigter aussehen als die / Hühnerställe dahinter“, ebd.). Er trifft auf eine Welt, die trotz ihrer vermeintlichen oder wirklichen Abgeschiedenheit bereits genauso von den Warenresten der ‚Ziviehlisation‘ durchdrungen scheint wie der gesamte übrige ‚Westen‘. So sammelt Brinkmann auch hier auf seinen Streifzügen durch die Umgebung Indizien des Untergangs:

Struppiges, Zerfasertes, Ausgebleichtes als Kulisse ringsum, krüpplige Eichengebüsche, zerfetzte Landschaft, (Müllkippen), (Thema: Die Landschaft als öffentliche Müllkippe, der Zwang des 20. Jahrhunderts, das zu Ende geht, da hilft auch kein romantisch-vergammelter Blick mehr!).: […] Worin kann der Blick sich noch ausruhen? Worin sich versenken? Wo? In winzigsten Stückchen, aber schon da auf dem Boden liegt Silberpapier, eine Ajaxdose, eine Plastiktüte, eine dreckige leere Zigarettenschachtel, ein aufgeweichter Comic. (RB 393 und 432)

Selbst wenn Olevano bis zu einem gewissen Punkt für Brinkmann ein Rückzugsraum und Gegenmodell zur Metropole Rom ist, will er die überall präsenten Verfallsspuren der modernen Zivilisation nicht übersehen. Er sieht eine Welt, die genauso von den Warenresten der Zivilisation durchdrungen ist wie alle anderen Orte seiner bisherigen Biographie. Bereits in den Aufzeichnungen zum ersten Aufenthalt in Olevano hatte er sich jedoch von den Lichtverhältnissen dort oben fasziniert gezeigt und notiert fast hymnische Beschreibungen der Wolkenkonstellationen im Sonnenuntergang, worauf ich später noch zurückkomme. Dies mag ihn angeregt haben, sich auch mit der künstlerischen Geschichte des Ortes zu beschäftigen.

Sah man genauer hin, ist der Mythos des Romantischen weg: Mauern, Zerfall, Winter, Steine haben sie gemalt!

 

Denn Olevano war bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert das Ziel zahlreicher Maler aus Nordeuropa, darunter vor allem die sogenannten Deutschrömer um Joseph Anton Koch, zu denen auch weitere Maler wie Franz Horny und Friedrich Overbeck zählten. Später zog es auch den Philosophen Anselm Feuerbach und Historiker wie Theodor Mommsen und Ferdinand Gregorovius auf ihren Italienreisen hierher. Viele blieben oftmals für lange Zeit oder zogen gar auf Dauer in das mittelalterliche Städtchen, angezogen auch von der Berglandschaft5Vgl. hierzu u.a. die Fernsehdokumentation von Henning Burk: Kolonie der Sehnsucht – Das Künstlerdorf Olevano. Hessischer Rundfunk 2004, 25 Min. (= … Continue reading.

Vorstellung von Olevano Romano mit Erläuterungen zur europäischen Künstlertradition des Ortes.
Italienisches Video mit englischen Untertiteln (Dauer: 3’06”)

Die Begegnung mit dieser reichen Tradition regt Brinkmann zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Begriff des Romantischen an (vgl. RB 431f.). So fügt er auf einer Doppelseite in Rom, Blicke (RB 439) Reproduktionen zweier Arbeiten von Joseph Anton Koch und Heinrich Reinhold ein. Auch Bilder von Caspar David Friedrich geraten dabei in seinen Blick 6Brinkmann erwähnt C.D. Friedrich bereits 1972 nach einem Besuch in der Hamburger Kunsthalle: „War in der Kunsthalle neben dem Bahnhof, viel … Continue reading. Die Begegnung mit dieser Malerei löst bei ihm Überlegungen zum Begriff des Romantischen aus, den er vor der ausschließlichen Lesart des Verklärenden in Schutz nimmt:

Es ist eben nicht der verklärende „schöne“ romantische Blick gewesen, wie die öffentlichen Bildungsstätten, die Schulen, die kulturhistorischen verlogenen Essays es haben wahrhaben wollen – es ist das Sonderbare, das aus der Ordnung des alltäglichen Lebens gefallen ist, das Abwegige […] – das Karge, das Zerfallene, das Unwirtliche (und auch nicht Überschaubare, Geheimnisvolle darin), das gemalt wurde und gesucht wurde – wie konnte es nur zu der Meinung, Romantik sei in den Bildern beschaulich[,] kommen? (RB 430)

In dieser Apologie spiegelt sich auch Brinkmanns eigenes Wirklichkeitsverständnis wieder, und eine Wahlverwandtschaft über zwei Jahrhunderte hinweg entsteht:

aber sah man genauer hin: Zerfall, ein Sich-Einrichten im Kaputten, Überalterten – kannst Du es so sehen, Maleen? – plötzlich ist der Mythos des Romantischen weg: Mauern, Zerfall, Winter, Steine haben sie gemalt! Man sieht es[,] sobald man aufgehört hat, auf das „Romantische“ darin zu schauen, sondern auf das, was da ist – schäbige kleine Hütten, ausgefranste Hinterhöfe, abendliche Dämmerung, wegsackender Mond, Stille, Monotonie, Apathie, Passivität, eine sterbende Welt haben sie gemalt – eine resignierende Welt, eine abendländische Welt, eine deutsche Welt, eine Todeswelt […]. (RB 431)

 

Nicht nur den Malern der Zeit der Romantik fühlt Brinkmann sich verbunden, sondern auch ihren Dichtern. Der Blickwinkel ist hierbei ein ähnlicher:

weggegangen sind sie, in den Rausch, in die Gespensterschatten, die aus den zerfallenen Straßen, aus den lichtlosen trüben bürgerlichen Winkeln, aus dem Straßengefunzel hervorsprang […], die Schriftsteller wehrten sich gegen ihre zerfallene Umwelt, die sie leibhaftig in zerbröckelnden Mauern, liegengelassenen Grundstücken, verwahrlosten Höfen sahn […]. (RB 431)

Er, der so oft in seinen Arbeiten und Essays gegen ‚Literatur‘ spricht (was natürlich zu differenzieren ist) und vor allem gegen die deutsche Literatur seiner Gegenwart wettert, entdeckt in Italien die Literatur des 18. und frühen 19. Jahrhunderts für sich. So schreibt er seiner Frau nach Köln:

ich lese bis tief in die Nacht, es macht mir Spaß, Jean Paul, hineingesehen, Die Unsichtbare Loge, K. Ph. Moritz, Andreas Hartkopf (auch ein böses Pamphlet gegen Weltreformatoren), durchgelesen, H.H. Jahnn, dabei, Burroughs, The Wild Boys, bei Seite gelegt, Bilz, Psychotische Umwelt, außerordentlich anregend, Giordano Bruno, Dialoge, sehr gut, alte Meiner-Ausgabe, dazu schwerfällige Schwarten um 1800, 1790, 1810, einige Bestellungen alter Bücher über die Deutsche Bibliothek, Rom, per Fernleihe, Johannes von Müller, Wieland, Herder, Nachholbedarf, bei mir. (Die deutsche Literatur ist schön!) (RB 346)

Wenn die mittlerweile zahllosen Aufsätze und Studien zu Rom, Blicke auf Brinkmanns ablehnendes Verhältnis zu Goethe und seiner Italienreise eingehen, werden in der Regel die immer gleichen Zitate angeführt. Dabei wird Brinkmanns Kritik gegen Goethe meist pauschal auf sein Verhältnis zur deutschen literarischen Tradition insgesamt bezogen. Daran ist er zwar nicht unschuldig, doch mit der obigen Passage widerspricht er sich selbst entschieden. Leider wurde dieses späte, aber eindeutige Bekenntnis bislang nie zum Anlass einer differenzierten Betrachtung von Brink­manns Leseprofil genommen.

Jäher rötlicher flammender Himmelsstrich im Südwesten:
Vista-Vision, besser als Kino war das hier, live!

 

Mag es noch angehen zu sagen, dass „Rolf Dieter Brinkmann alles, was er in Rom sah und hörte, zum Kotzen fand“ (Ursula März)7Ursula März: “Köln, Rom, Austin. Die Briefe an Hartmut zeigen Rolf Dieter Brinkmann in den Niederungenseines Hasses und auf der Höhe seines … Continue reading, was bereits bei genauer Lektüre zu differenzieren wäre, so ist das keineswegs pauschal auf Olevano zu übertragen. So entdeckt der Autor auf seinen einsamen Spaziergängen in der Umgebung der Kleinstadt die Wolken von Olevano als faszinierendes ästhetisches Phänomen. Deren Beschreibung gerät ihm an anderer Stelle zum Ausdruck regelrechter Licht- und Farbepiphanien:

Jäher rötlicher flammender Himmelsstrich im Südwesten, spätnachmittagsbraun und rot, breit hingestrichen […], flüssige Lichtmassen, die in der Luft hingen, ein grob aufgerissenes Lichtloch, riesig und schiefriges Blaugrau herum, hoch in der Luft, fern über den Ansiedlungen […]. (Ich hatte diese wuchtigen Bauten aus Helligkeit und Dampf in der Luft lange nicht mehr gesehen. Ich sah reglos dahin. / Sahen das auch die einzelnen starren, unbeweglichen in der Nachmittagsluft stehenden Männer am Weg vorher?) (Kostenloses Kino, Breitwand, Panoramablick, Vista-Vision, besser als Kino war das hier, live!) (RB 391)

Zwar brechen am 9. Januar die in Rom, Blicke noch vom Autor selbst zusammengestellten Aufzeichnungen ab. Doch damit endet nicht die literarische Auseinandersetzung mit Italien, im Gegenteil, sie setzt sich nur auf einer andereren, komplexeren Ebene fort, nämlich in der Text-Bild-Collage Schnitte. Bereits ab 1972 habe Brinkmann eine Material-Sammlung hierfür angelegt, so die Witwe im editorischen Nachwort, und mit der konkreten Arbeit am Manuskript am 5. März 1973 begonnen. Geschrieben und montiert worden sei das Buch dann bis zum 15. Juni in Rom, in Olevano Romano, sowie anlässlich eines zwischenzeitlichen Besuchs in Deutschland teilweise auch in Köln (vgl. Schn 159).

Schnitte in Olevano. Das Foto zeigt eine Doppelseite vor der Originalkulisse des darauf einmontiertem Postkartenaussrisses aus Olevano (unten rechts). Zum Vergrößern anklicken. Foto: Roberto Di Bella

Dieser bislang nicht gesehene, fast nahtlose Übergang zwischen den beiden Materialkomplexen von Rom, Blicke und Schnitte lässt sich nicht zuletzt an zahlreichen motivischen Verzahnungen feststellen. Z.B. kehrt das oben zitierte Wolkenthema am Ende der Text-Bild-Collage wieder, jedoch weiter bearbeitet und aus dem ursprünglichen Zusammenhang herausgelöst: „Glühende Lichttropfen wuchsen schweigend zwischen Grauschatten und schuppig schwerelos Gewölktes, das zu flammend erstarrte <sic!> Luftbrocken wurde, entzündete starrflüssige Lichtmassen“ (Schn 156)8Siehe ähnlich auch in der Hörfunkarbeit Die Wörter sind böse (WDR 1974): „Licht floß in grellen, glänzenden Schüben lautlos an den Rändern … Continue reading. So lässt sich das scheinbar abstrakte Sprachmaterial in Schnitte vielfach auf einen Erlebniskern zurückführen, wenn man die Verbindung zur älteren Prosa in Rom, Blicke herstellt oder es auf die spätere Lyrik in Westwärts 1&2 bezieht.9Vier Gedichte des Bandes greifen den Italien-Aufenthalt auf. Es sind dies der dritte Teil von „Im Voyageurs Apt. 311 East 31st Street, Austin“ … Continue reading

Auch der romantische Dichter Ludwig Tieck war im Rahmen seiner Italienreise von 1805/06 nach Olevano gekommen, was Brinkmann später in dem Langgedicht „Canneloni in Olevano“ (WWa 91–94/WWb 130–133) aufgreift. In Briefe an Hartmut erinnert sich Brinkmann an die Umstände, die zu diesem Text geführt haben:

‚eine wilde Nacht …‘ usw. ist ein Eindruck aus Olevano, in den Sabiner Berger, 50 km südöstlich Roms, wo ich einige Wochen allein lebte, nachts die bellenden Hunde in den Bergen, 567 m. überm Meeresspiegel, in der Casa Baldi, wo L. Tieck auch mal war, er schrieb ein Gedicht über den Ort, der heute nur noch ein schmurgeliges armes zerfallenes Mittelalter ist mit TV-Geflacker in den Steinhöhlen und Mulikot auf den Steintreppen, aber schön an milden Tagen über das Tal zu blicken, und nachts riesige Sternbilder, ganz klar. (BH 195f.)

Und weiter heißt es:

lebte ich dort, als ich da war, wirklich?: da war ich allerdings auch nur’n Gast durch die westdeutsche Regierung … dies <sic!> bezahlte. (In dem Gedichtband Westwärts ist ein Gedicht, das versucht klar zu machen, wie ich einmal kurz dort lebte und gut lebte, als M. und Rob. dort war und wir Canneloni <sic!> aßen, es heißt Canneloni in Olevano. (BH 196)

Doch Tieck ist nur im ersten Teil des Gedichts der Ansprechpartner. Die zweite, dem gegenüber sehr eigenständige Hälfte ist das Erinnerungsprotokoll eines Spazierganges mit Frau Maleen und Sohn Robert, die ihn im Frühjahr 1973 in Olevano besuchen. Diese Strophen werden von einer gänzlich anderen Stimmung geprägt. Die positiven Momente einer trotz aller Verstädterung noch sehr idyllischen Umgebung rücken in den Blick der lyrischen Rede. Es ist die Zeit der Abenddämmerung, die beschrieben wird, mit sonnenbadenden Eidechsen, glänzenden Schneckenspuren und leuchtendem rosa Licht. Auch die Nähe einzelner Menschen in dieser Berglandschaft wird von Brinkmann als anregend und friedlich empfunden, wohingegen die erste Hälfte vor allem Einsamkeitserfahrungen thematisierte. Nun sind da auch die Dorfbewohner, denen die kleine Familie in der entspannten Atmosphäre eines milden mediterranen Frühlingsabends begegnet. Es ist wie ein Aufatmen. Anspannung und alles Negative scheint für einige Momente ausgeblendet. Weit weg „düsterte Westdeutschland dahin, der // Albtraum, zusammengefallen“ und „es ist gut, sich gut zu fühlen“. Eine sanfte Melodie, die für uns unsichtbar und stumm die kleine Familie auf ihrem Weg zu begleiten scheint, zieht sich durch die Zeilen: „ein Kind, eine Frau, ein Mann, / die Roberts kleine Schuhe sangen“ und:

Durch die Schuppentür blickten sie hinaus
in das Licht über dem Tal, ein farbiger Raum.

Maleens Gesicht war weich und hell in dem hellen
Halbdunkel, ruhig zwischen den Hügeln
und mühelos schön in der Stille, die durch das

erfundene Lied noch weiter und einfach wurde.

Einübung einer neuen Sensibilität

Dieses In- und Miteinander von Natur, Landschaft und friedlicher menschlicher Gegenwart in „Canneloni in Olevano“ ist auch ein schönes Beispiel für die Formel von „MAGIC AND REALITY“, wie sie auf dem für Schnitte bearbeiteten Cover des Nachrichtenmagazins Time erscheint. Im Originalkontext der Verweis auf die Titelstory über Carlos Castaneda, kann sie bei Brinkmann zugleich als programmatischer Ausdruck seiner späten Ästhetik stehen, die nicht zuletzt auch durch den Aufenthalt in Rom und Olevano sich neu konturiert. Diese steht im Zeichen jener „Einübung einer neuen Sensibilität“10Rolf Dieter Brinkmann: „Einübung einer neuen Sensibilität“ [1969]. In: Rowohlt Literaturmagazin 36 (Rolf Dieter Brinkmann). Reinbek: Rowohlt … Continue reading und Bejahung des Jetzt, die einen Zustand der Ausgeglichenheit anstrebt: „ruhige Atemzüge in den Körper und aus dem Körper in gleichmäßigem Rhythmus: hier/:“ (Schn 80)

 

Auszug aus meiner Monografie Das wild gefleckte Panorama eines anderen Traums‘. Rolf Dieter Brinkmanns spätes Romanprojekt. Würzburg: Königshausen & Neumann 2015 (= „Studien zur Kulturpoetik“. Hg. von Torsten Hahn, Erich Kleinschmidt und Nicolas Pethes; 18). Dissertation Universität zu Köln, 2011. → mehr Infos zum Buch


Weiterführende Informationen

Roberto Di Bella: „’:träumen heißt die Sinne schärfen für die Gegenwart, in der man lebt/:’ Rolf Dieter Brinkmanns Re-Lektüren des Romantischen“. Vortrag über Brinkmanns Italienbilder, gehalten in der Casa di Goethe/Rom am 13. Mai 2013 → Vortrag hören

Barbara Koch Rachinger/Künsterleben in Rom: Kurze illustrierte Übersicht (6 Seiten) über die deutschen Künstler der Romantik in Olevano → Download (PDF – 468 KB )

Angela Windholz: Olevano, die erste Künstlerkolonie Europas. Deutsche Akademie Rom 2017. Ausführliche Darstellung (63 Seiten) über Olevano als Künstlerort sowie die Geschichte der beiden Künstlerresidenzen Villa Baldi und Casa Serpentara. → Download (PDF – 1,68 MB)

Gemeinde Olevano Romano → Website

Claudius Ziehr → Bildergalerie auf Flickr

Anmerkungen[+]

Über Roberto Di Bella

Dr. Roberto Di Bella: Literaturwissenschaftler & Kulturvermittler
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