In Rom, genauer: in Olevano Romano, entdeckt Rolf Dieter Brinkmann 1972/73 das Werk von Ludwig Tieck (1773-1853) für sich, einem der wichtigsten und produktivsten Schriftsteller der deutschen Romantik. Ein Jahr später, im Jahr 1974, als Brinkmann sich als „Writer in Residence“ an der Universität Austin/Texas aufhält, intensiviert er diese Lektüre.
In seinem exklusiven Gastbeitrag für diesen Blog thematisiert Michael Töteberg Brinkmanns fortgeführte Tieck-Rezeption und greift hierfür auf bislang unveröffentlichte Briefe und Dokumente aus dem Nachlass des Autors zurück. Töteberg arbeitet zurzeit an einer Biografie zu Rolf Dieter Brinkmann, der ersten überhaupt. Erscheinen wird diese im April 2025, pünktlich zum 50. Todestag des Autors, im Rowohlt Verlag.
Michael Töteberg
„Man denkt mit der Zunge“.
Brinkmann liest Ludwig Tieck in Austin
In Rom, genauer: in Olevano Romano, entdeckte Rolf Dieter Brinkmann bekanntlich Ludwig Tieck (1773-1853) für sich.1Vom 1. Oktober 1972 bis zum 31. Juli 1973 war Rolf Dieter Brinkmann Stipendiat der Deutschen Akademie – Villa Massimo in Rom, finanziert durch … Continue readingEin Jahr später, im Jahr 1974, als der Autor für fünf Monate als „Writer in Residence“ zu Gast an der Universität Austin, Texas war, intensivierte er die Lektüre.2Siehe nähere Informationen zu Brinkmanns USA-Aufenthalt u.a. auf diesem Blog den Beitrag „Brinkmanns Orte: Austin“ (Christof Siemes) sowie das … Continue reading Die Spuren finden sich in seinem posthum erschienenen Gedichtband Eiswasser an der Guadelupe Str. und andernorts. Von „vielen, bislang noch meist unberücksichtigt gebliebenen Belegstellen“ ist in Roberto Di Bellas Buch die Rede.3Auch Ludwig Tieck war im Rahmen seiner Italienreise von 1805/06 in die Kleinstadt gekommen, wie viele weitere Schriftsteller und Künstler vor und … Continue reading Nachfolgend soll anhand des unveröffentlichten Briefwechsels mit seiner Frau Maleen Brinkmanns Beschäftigung mit Tieck in Austin nachgezeichnet werden.4Die im Folgenden zitierten Dokumente befinden sich im noch nicht erschlossenen Teilnachlass „Rolf Dieter Brinkmann“, Deutsches Literaturarchiv … Continue reading
„Mit viel Überraschung und mit viel Vergnügen lese ich einen Erzählungsband von Tieck“, schreibt Brinkmann am 5. März 1974 an Maleen. Im Bücherturm der Universität waren Tiecks gesammelte Werke in der Ausgabe von 1853 vorhanden und konnten problemlos ausgeliehen werden. „Jetzt bin ich bei der zweiten Geschichte, ‚Der Alte vom Berge‚, erstaunlich pessimistisch, der Anfang eine totale Absage an die bestehenden Zustände. – In der Geschichte ‚Das Alte Buch oder Die Reise ins Blaue hinein‘ habe ich zwei Stellen letzte Woche gefunden, die Dich vielleicht interessieren bezüglich Deiner Arbeit über Märchen, der Seminare, und auch hinsichtlich der Beschäftigung mit Kinderbüchern – nämlich eine genaue Stelle, die Märchen aus der Zeit der Romantiker, von Tieck, sehr genau definiert und die Absichten erklärt, sowie eine zweite Stelle, die direkt das Prinzip der romantischen Ironie erklärt, wie Tieck sich das dachte und was er für richtig hielt.“5Vgl. Ludwig Tieck: „Das alte Buch und die Reise ins Blaue hinein. Eine Mährchen-Novelle <1835>“. In: Ludwig Tieck’s Schriften. … Continue reading
„Tieck hat so rasante Stellen in seinen Büchern …
und schmeißt auch dauernd die Sprache weg.“
Maleen könne dies eventuell bei ihrer mündlichen Prüfung an der Kölner PH zitieren, den Text würde kaum jemand kennen. Und dann wollte er sie noch auf eine Arbeitsmethode hinweisen, die bei jedem Buch nützlich sein könnte: „Nimm irgendeine Stelle eines Buches, und gehe einfach statistisch vor, zähle wie oft Wörter, Hauptwörter auftauchen und wie diese gewertet sind, negativ oder positiv, dann hast Du sogleich die Absicht und das Modell eines Autors und eines Gedanken.“ Um die Methode zu verdeutlichen, fügte Brinkmann drei Seiten seiner Tieck-Lektüre mit Kommentaren und Anstreichungen bei (siehe die untenstehenden Abbildungen). Ob Maleen diese Anregung aufgegriffen und sich im Rahmen ihres Studiums mit Tieck beschäftigt hat, ist unbekannt: Die Gegenbriefe fehlen. Aber Brinkmann machte, was zunächst nur ein Tipp für Maleen war, zu seinem Thema.
Von Brinkmann annotierte Seiten aus Ludwig Tieck
„Das alte Buch und die Reise ins Blaue hinein. Eine Mährchen-Novelle“ (1835)
Quelle: Deutsches Literaturarchiv Marbach
(zum Vergrößern anklicken)
Am 1. April schreibt er seiner Frau: „Ich hätte Lust, einen Aufsatz über Tieck zu schreiben, er hat so rasante Stellen in seinen Büchern, solche genauen Einsichten, und schmeißt auch dauernd die Sprache weg, (was natürlich ein Hund ist, der sich selbst in den Schwanz beißt: denn er tuts ja mit Wörtern … was ich von Sprache weiß, ist wohl schon wichtig, sich auszudrücken, und immer mit dem Wissen, daß jedes Wort eine Beschränkung ist, klar).“ Zwei Tage später spielte er mit dem Gedanken, nach der Rückkehr in Köln sein eigenes Studium an der PH wieder aufzunehmen.6Die Pädagogische Hochschule Rheinland war für die Ausbildung der Grund- und Hauptschullehrer sowie Sonderschullehrer im rheinischen Teil von … Continue reading Für die Diplomarbeit hatte er drei Themen, die ihn gleichermaßen faszinierten. „Nicht wegen des Diploms! Das ist bloß ein Vorwand, ein kleines vorgeschobenes Motiv“, erklärte er Maleen. An erster Stelle stehe:
„Ludwig Tiecks Einstellung zur Sprache und Literatur, nach der Ausgabe von L. Tieck, Schriften, Berlin, G. Reimer 1828 bis 1854, mit aktuellen Verweisen auf die deutsche Gegenwartsliteratur und Sprachtheorien (Mauthner, Wiener, Schmidt usw.) – z.B. Tiecks totale Ablehnung von einem Glauben an Sprache, an Literatur, Gespräche sind mehr, lebendiger (so im Vorwort zum Phantasus, Teil 2, in der Widmung an Schlegel 7Ludwig Tiecks Phantasus. Eine Sammlung von Märchen, Erzählungen, Schauspielen und Novellen erschien 1812 und 1816 in insgesamt drei Bänden. Die … Continue reading – dasselbe findet sich bei O. W. und F. M. – also gegen das, was Mauthner ‚Wortaberglaube‘ nennt, auch bei Benn deutlich immer wieder gesagt, oder Burr.[oughs] – für Lebendigkeit, Sex, Verzauberung, Leidenschaft, oder nimm doch nur solche Stelle, aus dem Blaubarttheater: ‚Simon: Suche zu begreifen: Ich denke, und mit dem Zeuge, womit ich denke, soll ich denken, wie dieses Zeug selbst beschaffen ist. Es ist unmöglich. Denn das, was denkt, kann nicht durch sich selbst gedacht werden‘ – das ganze enorme Stück von O. Wiener Alla Kherim, Reportage vom Fest der Begriffe[,] führt dieses Thema aus!8Brinkmann verweist hier auf Oswald Wieners Hauptwerk verbesserung von mitteleuropa, roman (EA Rowohlt 1969), einem der einflussreichsten Texte der … Continue reading Hier ist es, 1798, schon drin. Und immer wieder bei Tieck die Verhöhnung von Sprachverehrung und Literaturverehrung usw.“
„Abends gegen 8 noch einmal zum Bücherturm,
zwei Bände Tieck, ‚Kritische Schriften‘, Leipzig .“
Das sei, nahezu buchstäblich, dieselbe Haltung wie bei Oswald Wiener. Als mögliches zweites und drittes Thema erwägt Brinkmann entweder „Der sprachliche Ausdruck in der Kindersprache“ oder „Literatur, Sprache, Körperverhalten“ (so der Titel des Seminars, das er in Austin hielt) 9Nachweislich hat Brinkmanns Oswald Wieners Roman ebenfalls im Rahmen seines Universitätsseminars in Austin behandelt, wie er im Übrigen auch in … Continue readingAber wirklich reizen würde ihn Tieck, und er hatte auch schon einen Titel für seine Diplomarbeit, ein Zitat: „Man denkt mit der Zunge“. „Solche Arbeit [sic!] wäre sehr literarisch, ohne den Firlefanz von Sekundärliteratur würde ich sie machen. – Ganz auf meine Einsichten und Erfahrungen und Wissen mich verlassend. – Die Sekundärliteratur mag endlich zum großen Abfallhaufen gehen …“. Selbst in der Mittagspause, beim Essen im Hamburger-Restaurant, widmete sich Brinkmann der Lektüre von Tiecks Werken. Er las Ritter Blaubart. Ein Ammenmärchen in vier Akten (1796) parallel zu Die sieben Weiber des Blaubarts (1797). Maleen erfuhr am 4. April 1974:
„Das Theaterstück bei Tieck, Blaubart, hält sich sehr an das Perrault-Märchen, ein wenig ausstaffiert – die Prosa, die Erzählung, Blaubart, ist enorm: Verhöhnung von Literatur, Märchen, Träume, alles durcheinander, ohne Bezug zu einander“.
Ein letztes Mal findet Tieck in den Briefen an Maleen Erwähnung am 9. April: „Abends gegen 8 noch einmal zum Bücherturm, zwei Bände Tieck, Kritische Schriften, Leipzig .“
Zur Person
Michael Töteberg (*1951), Filmwissenschaftler, Herausgeber, Leiter der Rowohlt Agentur für Medienrechte (1994-2017). In seiner Zeit bei Rowohlt war er (in Zusammenarbeit mit Maleen Brinkmann) mitverantwortlich für die erweiterte Neuausgabe von Westwärts 1&2 (2005) und die Edition der frühen Lyrik in vorstellung meiner hände (2010).
Zu seinen jüngsten Publikationen gehören: Werner C. Barg / Michael Töteberg (Hgg.): Rainer Werner Fassbinder transmedial. Schüren Verlag 2020; Michael Töteberg / Alexandra Vasa (Hgg.): Ins Archiv, fürs Archiv, aus dem Archiv. edition text + kritik 2021; Michael Töteberg: „Frühe Gedichte und späte Lyrik. Archivfunde: Zur Publikationsstrategie Rolf Dieter Brinkmanns“. In: Bastian Dewenter et al. (Hgg.): „Wenn erst die Rosen verrinnen“. Erinnerung an Hermann Korte. Heidelberg: Winter 2023, S. 199-212 sowie „’Machen Sie, was Sie wollen, nur mit mir nicht‘. Die Korrespondenz Rolf Dieter Brinkmanns mit dem Merkur“. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Heft 905 (Oktober 2024), S. 82-86 → Leseprobe. Siehe auch den Artikel „Rolf Dieter Brinkmann“. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG), der durch ihn 2023 aktualisiert wurde (Stand: 15. Februar 2020). Im April 2025 erscheint bei Rowohlt sein Buch Ich gehe in ein anderes Blau. Rolf Dieter Brinkmann – eine Biografie.
Siehe vom Autor dieses Beitrags außerdem auf diesem Blog:
„Wer aber hört denn schon unsre Stimme?“. Ablehnung über Ablehnung: Ein Blick in die Verlagsarchive von Suhrkamp und Rowohlt → zum Beitrag
Anmerkungen