„Wie arm wäre die Welt ohne die freien Radikalen, ohne die Provokateure, die alles in Frage stellen und versuchen, so viele Konventionen wie möglich zu brechen.“ – Klaus Maeck ist Filmproduzent, Musikverleger und Gründungsfigur der deutschen Punkbewegung. 1979 eröffnet er mit weiteren Gesellschaftern Hamburgs ersten Punk-Plattenladen, »Rip Off«, der bis 1983 besteht und den neuen Sound zuletzt in alle Welt verschickt. Einige seiner Filmprojekte wie „Decoder“ (1984) oder „B-Movie: Lust & Sound in West-Berlin“ (2015) genießen Kultstatus. Seit den 70er Jahren schreibt Klaus Maeck aber auch journalistische und literarische Beiträge für Fanzines, Zeitungen und Magazine (u.a. Twen, Sounds, Anders Reisen, Junge Welt, Hamburger Rundschau). Nun liegt sein erstes ‘MaeckBook’ vor, mit einer sehr persönlichen Auswahl an Texten und Bildern.
Volle Pulle ins Verderben, soeben erschienen bei Moloko Print (→ mehr erfahren), enthält u.a. autofiktionale Prosa und Erinnerungen an besondere Filmprojekte, ergänzt durch künstlerische Arbeiten (Collagen und Gemälde) Maecks aus dreißig Jahren. Zu den literarischen Vorbildern des gebürtigen Hamburgers zählt neben William S. Burroughs – zwei Gespräche mit ihm sind ebenfalls Teil des Buches – auch Rolf Dieter Brinkmann (→ Vier Fragen zu Rolf Dieter Brinkmann). Davon zeugt die folgende Prosaskizze mit dem Titel „Augen, Blicke“. Entstanden ist sie bereits 1989, im Anschluss an eine Reise nach Italien, wo Maeck seinen Film „Decoder“ bewirbt. In gekürzter und überarbeiteter Form erscheint der Text nun erstmals auf diesem Blog, gewissermaßen als Bonus-Track zur aktuellen Veröffentlichung.
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Augen, Blicke
Frierend steige ich in den Zug nach Süden, hatte ich mir in freudiger Erwartung des italienischen Klimas doch nur ein leichtes Sommerjackett angezogen. Verzerrte Verspätungsansagen übertönen die Musik in meinem Walkman, ich denke an den Grappa und das Meer und mache es mir im Liegewagen bequem. Passend zur Reise habe ich mir Rom, Blicke von Brinkmann mitgenommen. Die vielen Kommentare von Freunden – „Das musst du lesen!“ – hatten meine Skepsis eher bestärkt, aber kaum bin ich über die ersten Seiten hinaus, stelle ich fest, dass Brinkmann mir aus dem Herzen spricht. „Man muß lernen, ohne Freunde auszukommen, wenn man überleben will.“ Lernen, alleine mit sich und der Welt klar zu kommen. Ich habe schon kapiert, dass alles Gute immer nur von kurzer Dauer ist. Die Suche nach andauernder Freundschaft wird so oft enttäuscht. Nur der Moment zählt, „Be Here & Now“.
Ein erstes Licht ging mir durch die Lektüre von Baba Ram Das und seines wunderbaren gleichnamigen Buches auf: die Erkenntnisse des Althippies Richard Alpert aus dem Leary-Umfeld in Kalifornien. Das Buch, das ich jahrelang mit mir herumschleppte und das noch heute in einer der nach vielen Umzügen nicht wieder ausgepackten Kisten sein müsste, hat bei mir einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Aber in diesem Moment ist das Hier und Jetzt nur schwer zu ertragen. Eingequetscht in ein Abteil mit fünf anderen, kein Platz für die Beine und Schmerzen im Rücken. Immerhin Schostakowitsch im Ohr und durch die Fenster biedere österreichische Berge mit biederen Menschen in biederen Berghäuschen auf harmlosen grünen Feldern – und die Menschen in meinem Abteil reden völlig sinnloses Zeug, dem ich mich trotz Kopfhörer nicht entziehen kann.
Taffe Männer in schicken Uniformen
kontrollieren meine Papiere
in grell beleuchteten Zollhäuschen.
Anonymes Stimmengewirr auf dem Umsteigebahnhof. Das vage Gefühl, schon mal hier gewesen zu sein, Flashback in einem der immer gleichen Bahnhofsrestaurants. Der erste italienische Kaffee. Erste italienische Worte, die mir wieder ins Gedächtnis fallen. Mille Grazie. Porco Dio. Bella Donna. Schöne Mädchen, schöne Augen-Blicke. Die Wahrheit folgt dann in Form der Rechnung, die wie in allen Bahnhöfen der Welt völlig überteuert ist. Das kleine Nickerchen im Anschlusszug ist kurz. Wie oft werde ich unsanft von hässlichen Menschen geweckt, wenn ich gerade vom Leben träume? Taffe Männer in schicken Uniformen kontrollieren meine Papiere in grell beleuchteten Zollhäuschen neben dem Gleis und sofort bekomme ich das Gefühl, kriminell zu sein. Aber mit dem Rücken zur Fahrtrichtung bin ich schon wieder unterwegs, eingeengt von schnatternden Menschen im Abteil, die diesmal Kochrezepte diskutieren. Ich schnappe mir Kopfhörer und Notizblock und schreibe an den Ausführungen zu meinem Film Decoder weiter, den ich am nächsten Tag in Mailand vorstellen soll.1Weltpremiere des Films ist 1984 auf der Berlinale. Hiernach stellt Maeck ihn in vielen Städten weltweit vor. Siehe die Liste der Stationen auf der … Continue reading
Gelangweilt sehe ich aus meinem Hotelfenster, das natürlich nicht zum Meer aufgeht, aber immerhin einen Blick auf das Dorf freigibt: grau-gelbe Wohnblöcke neueren Datums, ineinander verschachtelt, Balkon an Balkon, mit blassgrünen Rollläden und viel Wäsche vor den Fenstern. Im Hintergrund, wie sollte es auch anders sein, überragt einzig die Kirchturmspitze das Meer von dreckigen Dächern. Langsam steigt der Ort einen Berghang hinauf, auf dem dann nur noch sehr vereinzelt Häuser stehen. Sommerhäuser, alte verfallene Landvillen und ein phantasieloser Designer-Bungalow ragen aus dem grünen Pelzbewuchs des kleinen Berges heraus. Weiter oben die typischen rechteckigen Weingärten und dann entdecken meine Augen die Umrisse einer kleinen Hütte, geheimnisvoll versteckt hinter hohen, wilden Bäumen. Die will ich mir genauer ansehen, aber ich habe Schwierigkeiten, eine Tür zu finden. Alle Fenster sind mit groben Holzbalken verrammelt, eine Tür kann ich nicht erkennen, die Hütte muss ich mir mal aus der Nähe ansehen.
Wie krank die Stadt ist, merkt man erst,
wenn man weit weg von ihr ist.
Eine vorbeidonnernde Eisenbahn holt mich jäh in mein Hotelzimmer zurück. Unten im Garten ist die Familie beim Essen. Für mich ist es im Moment eher eine lästige Nebensache, die erledigt werden muss. Ich gehe zu dem kleinen Tischchen und bereite eine Inhalation vor, krame dazu die Utensilien aus meiner kleinen Reisetasche hervor und breite sie sorgfältig vor mir aus. Wie oft in meinem Leben habe ich diese Bewegungsabfolge schon gemacht, ein lange verinnerlichtes Ritual. Genüsslich rauche ich meinen Einblattjoint und widme mich wieder meiner Lektüre. Brinkmanns zerstückelnde, an Nichts etwas Gutes lassende Art schlägt mir etwas auf die Laune, aber stärkt auch das Bewusstsein, nicht allein zu sein. Es gibt andere, die genauso allein sind, wahrscheinlich mehr, als ich denke. Wie gerne hätte ich mich mit dem Mann einmal unterhalten. Ich klappe das Buch zu und greife mir ein paar leere Blätter.
Das Schlimmste, was dem passieren kann, der Vergnügen daran hat, über das Leben nachzudenken, ist, dass er Zeit dazu findet. Die habe ich reichlich, lese und schreibe wie ein Besessener und renne durch unbekannte Straßen, versuche, irgendeine Spur aufzunehmen, eine Kraftspur von irgendwoher … dabei wäre ich heute beinahe wieder überfahren worden. Ich geh einfach drauf los, kann den Gestank von Menschen im Moment nicht ertragen. Ich achte auf niemanden, schaue nicht nach links und nicht nach rechts, sehe höchstens in den Himmel – dieser pure Anblick von Raum über mir, eine Idee von Ewigkeit… ich liebe das All. Das A·l·l… hörst du, wie es nachhallt, dieses Wort?
Wie krank die Stadt ist, merkt man erst, wenn man weit weg von ihr ist. Die Qualität der Ruhe – Ruhe zum Lesen. Ich habe das Brinkmann-Buch in nur fünf Tagen durchgelesen, über 400 Seiten, im Sitzen, Stehen und Liegen. Ich fühle mich seltsam – gestärkt, gekräftigt, gleichzeitig angespannt bis zum Äußersten. Wenn die Gedanken den Geschmack der Träume annehmen. Bist du auch manchmal verliebt in Sätze? In überzeugende, strahlende Aneinanderreihung von Worten? Obwohl da nur ein paar Flecke auf dem Papier sind?
Gedanken auf plattem Papier. Haben sie immer noch diesen Geschmack? Bin ich fähig, meine Gedanken so zu transportieren, dass der Geschmack bleibt? So, wie wir es von guten Schriftstellern kennen, eine einfache Idee oder einen Komplex von Ideen geschmackvoll herübergebracht in Absätzen und Kapiteln, die fließend ineinander übergehen, schön zu lesen, reich fürs Gefühl, fähig dazu, Euphorie oder Trauer zu erzeugen. Bella e triste. (So wie du, meine Liebe.)
Das gierige Verlangen danach, zu schreiben, etwas zu erschaffen, drängelt mich durchs Leben. Entspannung ist langweilig. Der Wunsch, mit Worten oder Bildern eine eigene Welt zu schaffen, weil der Alltag nicht ausreicht, um darin zu überleben. Es muss mehr geben, und wenn man es erfinden muss! Dazu gehört allerdings der Glaube an die eigene Kraft, an die Fähigkeit, als Schöpfer zu agieren. Aber meine Gedanken brechen auseinander, bevor sie ausgesprochen sind. Unvollständige Sätze voller Widersprüche, die wie ein Bumerang zurückkehren. Bruchstücke, die sich verweigern, in eine Form gepresst zu werden.
Der große Vorteil des Kopierens ist,
dass man dazu kein großes Talent braucht
Es gibt nichts Neues mehr. Was es gibt, sind Kopien von Kopien, immer gröber gerastert, undeutlicher werdend, zerfasert – oft nur noch beleidigend. Beleidigend, weil diese große Herausforderung, ständig etwas Neues und Originales zu schaffen in der Kunst, in der Literatur, in der Musik, viele sogenannte oder vielmehr sich selbst so nennende Künstler immer wieder dazu verleitet, vulgär zu behaupten, sie wären innovativ. Dabei ändert sich gar nichts.
Der große Vorteil des Kopierens ist, dass man dazu kein großes Talent braucht, nicht einmal konzentrierte Aufmerksamkeit. Alles, was zu tun bleibt, ist gut auszusuchen, was man kopieren will. Alle kopieren, ich tue hier nichts anderes. Ein paar Absätze umstellen, Worte umdrehen, Bedeutungen vertauschen, in neue Zusammenhänge bringen. Mutationen zulassen. Wie komme ich ins Lachen, wenn ich die neuesten musikalischen Trends beobachte? Das Kopieren bekommt eine ganz neue Dimension. Es wird nicht mehr nur nachgemacht, heute nimmt man das Original auseinander und fügt es anders wieder zusammen. Alte Hits werden so zu neuen Hits durch einen neuen Mega-Mix. Mit der digitalen Inflation, mit der Verbreitung von Computern in den Kinderzimmern wird sich die Zahl der Sample-Punks vervielfältigen. Und schon wieder sind die Literaten über ihren alten Textstümpfen eingeschlafen.
Zur Person
Klaus Maeck, geboren 1954 in Hamburg, ist Filmproduzent, Autor und Musikverleger. Anfang der 80er Jahre begann Maeck, Super-8-Filme zu drehen und produzierte seinen ersten Spielfilm Decoder (1984), der auf W.S. Burroughs Cut-Ups basiert. Burroughs selbst spielt darin eine kleine Schlüsselrolle.
Trailer zu Decoder | Deutschland 1984 | 85 Min.
Regie: Muscha | Drehbuch: Klaus Maeck
Mehr Infos & vollständiger Film auf alleskino.de
Er ist Mitbegründer und langjähriger Geschäftsführer des unabhängigen Freibank Musikverlags, initiiert von der Band Einstürzende Neubauten, für die er auch als Manager tätig war. Durch seine Tätigkeit als Musikberater für Filme trifft er den Regisseur Fatih Akin, mit dem er 2004 die Produktionsfirma corazón international gründet. Im Jahr 2013 gründet Klaus Maeck seine eigene Filmproduktionsfirma Interzone Pictures. Sein jüngster Film Alles ist eins. Außer der 0 (2021) behandelt die Geschichte der deutschen Computerhacker. Soeben erschienen ist sein Erinnerungsbuch Volle Pulle ins Verderben. Stories – Interviews – Bilder. Moloko Print 2024.
Mehr Informationen
→ Fragebogen zu Rolf Dieter Brinkmann
→ Interzones Pictures
→ maeck.net (Website zum Buch)
Anmerkungen