Im April dieses Jahres wurde der Kölner Schriftsteller und Lyriker Bert Brune 80 Jahre alt. Aus diesem Anlass wurde u.a. seine autobiografische Erzählung “So weit, daß du die Träume lebst” (1989), die uns in die (Kölner) Literatur- und Kulturszene der 1980er eintauchen lässt, in überarbeiteter Form als “Der Aufbruch” neu aufgelegt.
Im Folgenden ein Auszug aus diesem Buch des “Stadtwanderers”, dem sein Generationsgenosse und Schriftstellerkollege Rolf Dieter Brinkmann ein bewundertes literarisches Vorbild war und der dabei doch im Leben wie Schreiben ganz andere Wege ging. Was “Dichtersein”, Leben und Freiheit für Brune bedeuten, fängt auch René Klammer in einem aktuellen Porträtfilm ein (Video am Ende des Beitrags).
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Begleittext zum Buch:
Was in den Achtzigern in Kölns Südstadt und im Stollwerck los war +++ Wo Ingo Kümmel junge Künstler um sich scharte – und neben Niedecken auch Khalid Al-Maaly sich einen Namen machte +++ Über „Rockpapst“ Diederich Diedrichsen, Hadayatullah Hübsch als Prediger und Helmut Salzinger, den „Head Farm“-Gründer +++ Hilkas wilde Fahrt +++ Sponsoring von einer Bank und von der SPD. Und wie Bert Brune sonst noch Kunst plus Arbeit plus Familie unter einen Hut zu bringen trachtete – und ganz besonders möglichst viele Bücher unters Volk!
1. Kapitel
Ich hatte schon eine Menge Seiten vollgeschrieben, mich fast jeden Morgen für eine oder zwei Stunden mit Literatur befasst, hatte die Seiten nochmals abgetippt und schön zusammengeheftet und – wie es sich gehört – an die Verlage geschickt: Brieftauben, die man lossandte in der Hoffnung, dass eine das Ziel treffen, also nicht mehr in den Schlag zurückkommen würde, stattdessen ein kleines Briefchen eintrudelte: “Alles in Ordnung, sehr verehrter, noch unbekannter Dichter. Sie haben was auf dem Kasten. Sie haben die richtige Schreibe drauf, wir nehmen Sie, wir wagen es.” Aber, leider, die Porto-Ausgaben hatten sich nicht gelohnt. Ich schlich morgens hoffnungsvoll die Treppe runter, zum Briefkasten im Flur, und bedrückt wieder die Treppe hoch, schob die abgewiesenen Manuskripte zurück in die Schublade. Lass es bleiben, sagte ich mir dann: Du bist eben nicht im Trend; oder, in schwachen Momenten: Du bist eben doch kein Schriftsteller, geh’ einer anständigen Beschäftigung nach; oder werde vielleicht Maler, die sind momentan eher gefragt, oder Bildhauer, wenn’s denn unbedingt was Kreatives sein muss. Aber, ich merkte, der Hahn ließ sich einfach nicht zudrehen – schon gar nicht in der Südstadt, meiner engeren Heimat. […]
„Vor-Ort-Gedichte“ wollte ich machen,
die Atmosphäre einfangen und festhalten
29. Kapitel
Im Zuge des Hefts Südstadt-Blues hatte ich mir angewöhnt, sozusagen als Verbeugung vor den Cafés und Kneipen, draußen beim Bier und Cappuccino meine Briefe und auch meine Gedichte zu schreiben. Ich hatte damals die Tour drauf, spontan, sobald es mich juckte, Papier rauszuholen und die Atmosphäre bei Schroeders oder im Out einzufangen und festzuhalten. „Vor-Ort-Gedichte“ wollte ich machen, nicht nur in den Lokalen, sondern überall, wo ich ging und stand, in der U-Bahn-Station am Neumarkt, beim Warten an der Bushaltestelle, ja sogar während eines Bummels über die Severinstraße. Denn damals war gerade das Tagebuch von Brinkmann herausgekommen <Erkundungen zur Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand , posthum 1987, Anm. Di Bella>, dem jung verstorbenen Kölner Dichter, der wirklich ein fanatischer Notierer und Gedanken- und Reminiszenzen-Sammler war.
Und während ich mit großen Augen diesen voluminösen Brinkmann-Band durchblätterte, erkannte ich: Das ist ein aufrichtiger Dichter, ein kompromissloser, ein ernsthafter – und vor allem eben auch ein Kölner Künstler. In seiner Art ein Lokalpatriot, wie ich auch selbst vielleicht einer war. Denn man konnte regelrecht, wenn man Rolf Dieters Beschreibungen las, den Benzingestank in der Engelbertstraße, wo er mit seiner Familie wohnte, riechen. Dem Leser wurde zum Beispiel die Innenausstattung des Tabakladens an der Ehrenstraße plastisch vorgeführt. Man konnte förmlich die schmutzige Wiese um den Springbrunnen am Rudolfplatz vor sich sehen, den ungeheuren Autoverkehr dort hören. Brinkmann, ein Fanatiker von Fakten, wie er sich selbst nannte und es von sich forderte, beschrieb jeden Bauzaun, den Ölfleck auf dem Asphalt vor seiner Haustür. Und eben auch die Lokale, Kneipen, die Diskotheken, die er besuchte. Sogar die Bordelle in der Kleinen Brinkgasse.
Brinkmann war ein Maßstäbe setzender Außenseiter
Notierte auch gewissenhaft den Preis für seine Orient-Zigarettenpackung. Und man erfuhr, wie viel der Wein im Wienerwald am Ring kostete und in welcher Automatenpassage er noch nachts um zwei Uhr seinen Alkohol und seinen Tabak holte. Brinkmann war allerdings – im Gegensatz zu mir – ein unermüdlicher Kritiker (sagen wie es mal höflich) seiner Stadt, wohl allgemein jeder Großstadt. Wenn man seine aggressiven, nichts beschönigenden Texte las: Das Herz schlug einem angesichts seiner Vitalität und Radikalität höher. Dieser Dichter gab jedem seiner Leser einen Adrenalin-Stoß. Man sah selbst nun unwillkürlich genauer hin, nahm seine Umgebung intensiver wahr. Fühlte sich aufgefordert, selbst zu notieren, zu reflektieren, und alles, was um einen herum geschah, zu registrieren und zu beurteilen. Brinkmann nahm wenig Rücksicht, denn er fühlte sich ganz als Künstler, mithin als Maßstäbe setzender Außenseiter. Er nahm seinen von ihm selbst gewählten Beruf ernst. Schreiben war für ihn harte Arbeit, pausenlos saß er an der Maschine und tippte konzentriert seine endlos langen Seiten. Rauchte allerdings ununterbrochen, soff auch ganz schön, kümmerte sich notgedrungen nur sporadisch um seine Familie, um sein Kind, was ihn selbst oft bedrückte.
Doch er kam nicht los vom Schreiben, sah es als seine Aufgabe an, alles zu geben, sich voll zu engagieren. Brinkmann war ein Leidender, ein Leidender am Leben. Überall sah er die Welt vertiert, verzerrt, überall fühlte er sich verfolgt, vom Autolärm vor der Haustür, vom Straßenschmutz. Auch von den Verlegern, die seiner Ansicht nach ihn nur ausnutzen wollten, seine Arbeitskraft missbrauchen. Aber er wurde auch gequält von Erinnerungen, meist düsteren Erinnerungen aus der Kindheit, die er im Norddeutschen, der Kleinstadt Vechta, verbracht hatte. Brinkmann, der nur zwei Jahre älter als ich war, kannte keine Hemmungen. Wenn er an der Schreibmaschine saß, gehorchte er nur seinem Gefühl, seinem künstlerischen Drang. Während ich selbst, wie die meisten ja auch, Kompromisse einging, zum Beispiel zeitweise einen Geldjob hatte, Familienpflichten erfüllte.
Nicht, dass ich Brinkmann, der als Schriftsteller relativ schnell bekannt wurde, beneidet hätte oder auch gern so einer wie er geworden wäre. Ich hatte nie die Lust verspürt, mehr als zwei, drei Stunden an der Schreibmaschine zu sitzen. Ich hütete mich davor, die künstlerische Tätigkeit in regelrechte Arbeit ausarten zu lassen. Ich beschäftigte mich gern mit meinem Sohn, nahm mir Zeit für die Familie. Andererseits: Brinkmann, vor allem in seinen Büchern Rom, Blicke (1979) und in dem 1987 erschienenen Tagebuch war eben, wie gesagt, für mich einer der wenigen „echten” zeitgenössischen Dichter. Faszinierend wohl auch, weil er eine tragische Figur abgab, denn er starb sehr jung, als er in London eine Straße überqueren wollte und von einem Auto erfasst wurde. Damals war er fast schon wieder in der Versenkung verschwunden, wurde erst danach, durch seinen 1975 ebenfalls posthum erschienenen Band Westwärts 1 & 2, richtig bekannt.
Brinkmann & Böll: zwei konträre Autortypen
Doch Brinkmann war einer, zu dem man aufschauen konnte, der sein Künstlertum nicht mit Karriere und Berühmt-werden-Wollen verband, sondern mit Einsatz, Selbstaufgabe. Der vor allem ehrlicher Sucher war, nach Selbstverwirklichung, nach Schönheit, nach Wahrheit, wie er sie verstand, nicht dauernd überlegte, wie bringe ich literarische Kunststückchen zustande, wie bringe ich mein Werk so heraus, dass es dem Leser gefällt. Diese Einstellung, die natürlich nicht ausschloss, dass er auch gerne ein wenig berühmt, erfolgreich geworden wäre, sie machte den jungen Kölner Dichter zu einem ganz Großen. Böll, der andere bekannte Kölner Dichter, der übrigens auch, wie Brinkmann, zeitweise in der Südstadt wohnte, Böll war wohl Nobelpreisträger, DIE Literaturfigur in Köln. Doch war er mehr ein politischer, beinahe religiöser Schreiber. Böll war ein Kämpfer für das Gute, setzte sich für Unterprivilegierte, politisch Verfolgte ein. Aber er war nicht die Künstlergestalt, die mit sich selbst oder dem eigenen Werk rang. Er stellte sich jedenfalls in seinen Arbeiten, in seinen Veröffentlichungen, nicht in Frage. Er wurde stark im Kampf mit der konservativen Presse, der katholischen Kirche, den Politikern. Doch von der Einsamkeit, dem Ringen des Künstlers mit seinem Medium, davon erfuhr der Leser nichts.
Brinkmann dagegen war künstlerisch gesehen ein Radikaler, nahm keine Rücksicht auf Zeitströmungen, auch nicht auf sich selbst, oder die Leute, die ihn umgaben. Solche Dichter waren oft wirklich unglücklich. Aber sie kannten dafür auch Momente des höchsten Glücks, wenn sie merkten, sie schafften etwas, sie konnten den Menschen was geben. Sie wussten, sie waren das Salz der Erde – ein Glücksgefühl, wie es dem Normalen, dem weniger Radikalen nie im Leben zuteilwird. Doch man muss angesichts gelegentlicher Höhenflüge bedenken: der Tag, die Wochen, Monate, Jahre können lang werden, auch die gewöhnlichen, unproduktiven Stunden des Alltags müssen ja gelebt werden. […]
30. Kapitel
Ich hatte einige Bücher geschrieben, sie in Umlauf gebracht. Das große Geld war nicht gekommen. Aber es hatte sich doch was getan. Denn wenn ich abends die Kumpels in den Kneipen traf und sie zu fragen begannen: „Na, was macht die Arbeit?“, dann meinten sie nicht die Lehrer- und Dozentenjobs. Die Maler wie Adern Yilmaz zum Beispiel oder Klaus Winterfeld oder so Kunst-Cracks wie Ingo Kümmel hörten mir ernsthaft zu, wenn ich ihnen was von meinem neuen Projekt oder überhaupt meine Ansichten über Kunst und Leben erzählte. Ich war nun tatsächlich, merkte ich, so was wie ein Schriftsteller geworden. Die Leute sahen mich nun wirklich als einen, der ernsthaft Gedichte schrieb: Bücher verfasste, vor allem das Thema Südstadt hartnäckig anging.
Hast wieder Ballast abgeworfen,
ein Stück Freiheit gewonnen
Und ich begann, stärker als früher, auf diesen meinen neuen Status Rücksicht zu nehmen. Hatte jetzt mehr Mut, mir die Zeit für meine künstlerische Arbeit zu nehmen. Was bedeutete, ich konnte nun in der Volkshochschule, wenn der Boss ankam und sagte: „Der Kollege Maier ist ausgefallen, können Sie nicht seine Stunden übernehmen?“ – womit er glaubte, mir einen Gefallen zu tun, denn jede zusätzliche Stunde brachte zusätzliches Geld – ich konnte nun endlich mit einer gewissen Festigkeit sagen: „Nein danke, ich habe keine Zeit.” Ich verließ dann leichten Herzens das Büro, fuhr mit dem Fahrstuhl runter, ging in der Halle am Pförtner vorbei, drückte die Glastür auf. Sah zu der Sonne hoch, zu den Wolken. Schlenderte die breite Treppe zur Straßenbahnhaltestelle hinunter – nur den einen Gedanken im Kopf: Hast wieder Ballast abgeworfen, ein Stück Freiheit gewonnen. Und während ich in der Bahn saß und aus dem Fenster guckte, stiegen neue Bilder in mir hoch, die zu Buchstaben zerschmolzen und sich widerspruchslos zu weiteren Geschichten und Gedichten zusammenfügten. ■
Auszug aus Bert Brune: Der Aufbruch. Autobiografische Erzählung. Mit einer Aufstellung ausgewählter Weggefährten sowie einem Nachwort von Norbert Rath. Roland Reischl Verlag 2022. Überarbeitete Neuausgabe des Buches So weit, daß du die Träume lebst (Wolkenstein Verlag 1989). Veröffentlichung des Textauszugs auf diesem Blog mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Zur Person
Bert Brune, 1943 in Büren/Westf. geboren, studierte 1966 bis 1970 Germanistik, Geschichte und Theaterwissenschaften in Köln, wo er seitdem lebt. Bis 1979 als Lehrer an einem Gymnasium tätig, widmete er sich hiernach hauptberuflich dem Schreiben. Mittlerweile sind rund 30 Bücher von ihm veröffentlicht worden. Auch publizierte er Lyrik und Prosa in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien. Seit 2009 erscheinen Bert Brunes Bücher im Roland Reischl Verlag. Zum 80. Geburtstags des Autors ist dort erschienen von Norbert Rath: Zum Werk von Bert Brune: Einladung zur Lektüre. Roland Reischl Verlag 2023.
Der Stadtwanderer (2023) – ein Film von René Klammer (ca. 23 min.)
Weitere Infos
Alle Bücher von Bert Brune im Roland Reischl Verlag
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