Die „Einübung einer neuen Sensibilität“ (Brinkmann) wurde in der deutschsprachigen Literatur wesentlich durch die von Rolf Dieter Brinkmann (1940-1975) und Ralf-Rainer Rygulla initiierten Übersetzungen und Editionen von Texten der amerikanischen Pop- und Underground-Szene befördert. Dies gilt zuvorderst für ihre umfangreiche und viel beachtete Übersetzungsanthologie ACID. Neue amerikanische Szene (März Verlag 1969). Trotz ihrer unbestrittenen literatur- und kulturhistorischen Bedeutung liegen jedoch die konkreten Produktions-, Vermittlungs- und Wirkungsumstände von ACID nach wie vor im Dunkeln.
Ralf-Rainer Rygulla als Co-Herausgeber ist hierfür der zentrale Zeitzeuge. Mehr noch: durch seinen mehrjährigen Aufenthalt im „Swinging London“ der 60er Jahre und die dort gemachten literarischen Entdeckungen bringt er letztlich den Stein ins Rollen. 1960 lernt er, als erst 16-Jähriger, den drei Jahre älteren Brinkmann während der gemeinsamen Buchhändlerlehre in Essen kennen. Im Anschluss geht Rygulla 1963 nach London, wo er bis 1966 bei Foyles arbeitet, damals eine der größten Buchhandlungen der Welt.
Das folgende Telefonat mit ihm führte ich am 3. Mai 2022 im Zuge meiner Recherchen im Sonderforschungsbereich „Transformationen des Populären“ (Universität Siegen) für eine dort entstehende Projektmonografie zum Thema. Das Telefonat kreist insbesondere um die zentrale, dabei von Brinkmann kritisch bewertete Rolle, die Bilder und Bildlichkeit in ACID bzw. für den (sub-)kulturellen Kontext der Anthologie spielen. Das kurze Interview wurde für die Blog-Veröffentlichung leicht überarbeitet und war der Auftakt zu weiteren, detaillierteren Gesprächen mit Ralf-Rainer Rygulla.
Roberto Di Bella
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Hier das vollständige Interview lesen
→ https://sfb1472.uni-siegen.de
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Ralf-Rainer Rygulla, geb. 1943 in Laurahütte bei Kattowitz, aufgewachsen dortselbst sowie in Höxter/Weser, anschließend wohnhaft in Essen (1960-63), London (1963-66), Köln (ab 1966) und seit 1970 in Frankfurt am Main. Ausbildung zum Buchhändler, Studium an der Pädagogischen Hochschule Köln, DJ, Diskothekenbetreiber, Musiker, Songtexter, Übersetzer und Lektor (u.a. 1969-71: März Verlag; 1972: Rowohlt Verlag), Mitherausgeber von Der Gummibaum – Hauszeitschrift für neue Dichtung (1969-1970) und diverser literarischer Anthologien und Kompilationen. Zuletzt erschien, hrsg. gemeinsam mit Marco Sagurna, die umfangreiche Anthologie Der Osten leuchtet (Dielmann 2022) mit Lyrik aus 21 Ländern Ost- und Südost-Europas. (Weitere Infos zur Person)
Die Literatur der »Neuen Sensibilität« (circa 1965-1975) ist bis heute weitgehend terra incognita der deutschsprachigen Literaturgeschichte geblieben. Sie wird von einer nur lose integrierten intellektuellen Formation getragen, die sich teils explizit, teils implizit auf die aus den USA importierten begrifflichen Einsätze von Susan Sontag, Tom Wolfe, Leslie A. Fiedler, Herbert Marcuse und anderen bezieht. In den Werken von seinerzeit jungen Autorinnen und Autoren wie Elfriede Jelinek, Rolf Dieter Brinkmann, Renate Matthaei, Peter Handke, Renate Rasp, Hubert Fichte, Barbara Frischmuth, Gerhard Zwerenz oder Helga M. Novak wird die Agenda der Neuen Sensibilität fassbar: Provokative Drastik, Massenmedien- und Konsumbezug, Sex- und Gewaltdarstellungen sowie nicht zuletzt die experimentelle Strapazierung des Buchmediums zielen auf nicht weniger als auf eine »Revolution der Wahrnehmung«. Dies untersucht – im Rahmen des SFB 1472 Transformationen des Populären – das Teilprojekt „Pop, Literatur und Neue Sensibilität: Theorien, Schreibweisen, Experimente“ (A06).
Aktuelle Publikation
Jörgen Schäfer und Georg Stanitzek (Hgg.): Neue Sensibilität: Vorschläge zu einem Kanon. München: edition text + kritik 2024 (= neoAVANTGARDEN, hrsg. von Hans-Edwin Friedrich und Sven Hanuschek; 18) – mit Beiträgen von Jörgen Schäfer, Georg Stanitzek, Roberto Di Bella, Marie Sophie Beckmann, Anna Estermann, Daniela Gretz, Christine Weder, Ursula Geitner, Isabella Greiner und Ana de Almeida/Christian Wimplinger.
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