London war für Brinkmann der Inbegriff internationaler und weltoffener Kultur. Viele seiner Texte tragen Spuren seiner Besuche in der Stadt, die insbesondere zwischen 1966 und 1969 liegen. Die bittere Ironie: in London sollte Brinkmann 1975 auch zu Tode kommen. Bei jedem Aufenthalt spielten dieselben Stadtteile und Orte eine Rolle. Der Londoner Literaturwissenschaftler ANDREAS KRAMER folgt den Spuren des Schriftstellers durch die Metropole, auch fotografisch. Ein Beitrag zur Reihe “Brinkmanns Orte“.
Die Koordinaten von Brinkmanns Beziehung zu England sind im Groben bekannt. Insbesondere seine Besuche in London zwischen 1966 und 1969 waren entscheidend für seine Hinwendung zur Popkultur und -literatur.1Vgl. Andreas Kramer: „Rolf Dieter Brinkmann in England“. In: Eiswasser. Zeitschrift für Literatur. Amerikanischer Speck, englischer Honig, … Continue reading Diese Einflüsse sollten seine Schreibweise nachhaltig verändern und spiegeln sich ebenso in den vielfältigen Bestrebungen, aktuelle US-amerikanische Literatur in Deutschland zu vermitteln. Zahlreiche seiner Texte – von Passagen im Roman Keiner weiß mehr über die Erinnerungsnotate in den Erkundungen bis hin zu den Gedichten in Westwärts 1&2 – reflektieren Brinkmanns Erfahrungen in und mit der britischen Metropole.
Der wohl wichtigste Impuls für Brinkmann, nach London zu fahren, muss von Ralf-Rainer Rygulla ausgegangen sein, mit dem gemeinsam er zwischen 1959 und 1962 in Essen eine Buchhandelsausbildung gemacht hatte (→ Brinkmanns Orte: Essen/Ruhr). Rygulla ging wenig später nach England, wo er mehrere Jahre (1966-1969) in der berühmten Londoner Buchhandlung Foyles arbeitete. In dieser Zeit wohnte er im Stadtteil Bayswater im Londoner Westen. Brinkmann besuchte Rygulla dort und damit erstmals auch die britische Hauptstadt im April 1965, kurz nach Erscheinen seines ersten Erzählbandes Die Umarmung, den ihm seine Frau Maleen dorthin nachschickte. Brinkmann erinnert sich in seinen späteren Tagebuchaufzeichnungen aus den 70er Jahren auch an Rygullas „Zimmer in der Hereford Road (?) […] ich wohnte 8 Tage oben in eine[m] Zimmer, ging viel rum“2Rolf Dieter Brinkmann: Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand. Hrsg. von Maleen Brinkmann. Reinbek: Rowohlt 1987, S. 342 … Continue reading. Rygulla wohnte allerdings nicht in dieser Straße, sondern in der Talbot Road 4, einem schmalen mehrgeschossigen Wohnhaus, das sich genau an der Einmündung zur Hereford Road befindet.
Fotos: Andreas Kramer
Da es sich hierbei um ein Reihenhaus handelt, muss der Blick vom Zimmer „oben“, von dem Brinkmann spricht, entweder nach Norden gehen, in Richtung Harrow Road, oder nach Süden auf die Hereford Road. Genau diese Perspektive wird auch in Keiner weiß mehr thematisiert, Brinkmanns 1968 erschienenen Roman:
Weit draußen war die Straße zu überblicken gewesen, die sich direkt vom Haus weg gerade hinzog zu der Kreuzung Westbourne Grove, Hereford Road mit der Wimpy Bar rechts an der Ecke, wieder so ein Wort, wieder so englisch wie die Straße, schnurgerade angelegt, die weiter hinter der Kreuzung verlief, sich dann aber doch verlor in einem streng angeordneten Gewirr, zusammengesetzt aus diesen durchgehenden Häuserfronten, die dennoch aufgeteilt waren in einzelne Abschnitte durch die immer gleichen überdachten, etwas vorgezogenen Hauseingänge.3Rolf Dieter Brinkmann: Keiner weiß mehr. Roman. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1968, S. 110.
Bayswater und Notting Hill:
die neuen Viertel der Londoner Bohème in den 60ern
Vor einem halben Jahrhundert konnte man in Bayswater und im Nachbarviertel Notting Hill noch sehr preiswert in nicht oder kaum modernisierten Altbauten wohnen. Aus diesem Grund hatten sich hier zahlreiche junge Schriftsteller, Künstler und Aktivisten angesiedelt, die entscheidend zur Entstehung des Londoner Underground beitrugen. Sie lebten nun nicht mehr in Bloomsbury oder Chelsea, den angestammten Bohème-Vierteln des frühen 20. Jahrhunderts, sondern in diesem Quartier zwischen der Ladbroke Grove im Westen, dem Queensway im Osten und Notting Hill Gate im Süden.4Als nördliche Grenze gilt die Harrow Road, doch auch die ausgedehnten Gleisanlagen, die zum Londoner Westbahnhof Paddington Station führen, lassen … Continue reading
Der Skandalautor und Underground-Impresario Alexander Trocchi wohnte z.B. in der Chepstow Road; auch die London Free School, eine aus dem Underground entstandene politische Bildungseinrichtung, war hier aktiv. Aus einer ihrer zahlreichen Initiativen ging 1966 der Notting Hill Carnival hervor, ein Event, der bis heute eine leicht alternative Aura besitzt. Donald Cammells und Nicholas Roegs Film Performance, in dem Mick Jagger die Hauptrolle spielt, liefert 1970 bereits einen nostalgischen Rückblick auf dieses Viertel. Die Schriftstellerin Elizabeth Wilson, die in Bayswater und Notting Hill lebte, hat die hier herrschende Spannung zwischen Alt und Neu treffend beschrieben: „In the peeling shells of those enormous pompous houses a new culture spread like golden lichen, a new growth which was actually a symptom of decay.“5Elizabeth Wilson: Mirror Writing: an autobiography. London: Virago 1982, zitiert nach Barry Miles: London Calling. A Countercultural History of … Continue reading
Mit ein wenig Fantasie kann man sich also Rygullas Wohnsitz in der Talbot Road 4 vor 50 Jahren als ein etwas heruntergekommenes Gebäude mit abblätternder Außenfarbe vorstellen, während drinnen die zumeist jungen Mieter einen neuen Lebenstil ausprobieren, ihn der alten Architektur geradezu aufzwingen. Dazu gehörte auch, dass man den vorhandenen Wohnraum den eigenen Lebens- und Stilvorstellungen anpasste. So erwähnt Brinkmann, dass Rygulla seine „Bude“ „gerade etwas gestrichen hatte“ und erinnert sich an moderne, provokante Bilder und Poster, die gemeinsam mit der offen herausgestellten Homosexualität seines Freundes diesen neuen Lebensstil kennzeichnen sollen. Brinkmann scheinen dies „mit enormen Bedeutungen aufgeladen[e]“ Zeichen zu sein, „so dass ich gar nicht sah, was ich sah, oder sehr verwirrt war“ (Erkundungen, S. 313).
Das Stadtviertel Bayswater, in dem Rygulla und Brinkmann wohnten, ist nur durch die Paddington Station und den Hyde Park vom West End und der Innenstadt getrennt. Der Hyde Park wiederum ist von der Talbot Road aus in etwa zehn Gehminuten zu erreichen, indem man entweder kleinere Nebenstraßen oder den in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Queensway nimmt. Keiner weiß mehr enthält mehrere Szenen, die diesen Fußweg schildern. Am Queensway befand sich auch ein altes Kino im Stile des Art déco, das inzwischen zu Nobeleigentumswohnungen umgebaut wurde. Ist dies jene „Haltestelle Odeon“ auf dem Rückweg von der Innenstadt, die Brinkmann im Gedicht „Einige sehr populäre Songs“ erwähnt, „allein durch London gehend, still, zusammengefasst in dem hellgrauen, windigen Februarabend, zerfallenes London, elegische Westendstraßen“?6Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1&2. Gedichte. Mit Fotos des Autors. In der Reihe das neue buch. Hrsg. von Jürgen Mantey. Reinbek: Rowohlt … Continue reading
Fotos: Andreas Kramer
In den 60er Jahren das Flugzeug zu nehmen, war zumindest für junge Dichter unüblich. Brinkmanns Transportmittel waren deshalb Auto, Zug und Fähre. Einmal ging es per Anhalter nach Dünkirchen, dann mit der Nachtfähre über den Ärmelkanal und dem Zug von Dover nach London (vgl. Erkundungen, S. 313). Ein weiterer „Ausflug nach London“ wurde mit dem Bekannten Peter Meyer in dessen Wagen unternommen (Erkundungen, S. 257). Dieser Ausflug datiert wohl vom April 1968, denn Keiner weiß mehr ist erschienen und die ersten Vorbereitungen für Acid werden getroffen.7Zur komplexen Entstehungsgeschichte von Keiner weiß mehr vgl. Ralf-Rainer Rygullas Vorwort zur englischen Übersetzung des Romans. Mit dabei war auch Maleen Brinkmann begleitet, die für diese Zeit den gemeinsamen Sohn Robert bei Brinkmanns Familie in Vechta untergebracht hatte. Beide wohnten diesmal bei (einem nicht näher bekannten) Leslie, „der nur 1 Glas Wasser im Kühlschrank stehen hatte, in einem Flat im Westend, mit 2 Schwulen“ (Erkundungen, S. 257). Brinkmanns Sorge allerdings – „M. alleine da in der Wohnung unter den fremden Schwulen“ – veranlasst ihn zum Umzug „später ins Rhein-Hotel“. Damit meinte Brinkmann wohl das Rhine Hotel in der Hereford Road 48, in Bayswater, etwa 150 Meter von Rygullas Wohnung in der Talbot Road entfernt. Mag sein, dass er bei seinen Ausflügen in die Innenstadt auf das Hotel aufmerksam geworden war, denn man muss die Hereford Road in Richtung Süden hinuntergehen, um zur nächstgelegenen Bushaltestelle auf der Westbourne Grove zu gelangen. Aber viel spannender ist natürlich, dass der Name des Hotels eine Verbindung zu Brinkmanns Wohnort Köln am Rhein herstellt. Ist mit dem Londoner Hotel in „Einige sehr populäre Songs” das Rhine Hotel gemeint? „Nach dem Film [Brinkmann sah Kubricks 2001, Anm. AK ] krieche / ich fröstelnd unter die die dünne Decke eines billigen / Hotels in Bayswater, Haltestelle Odeon, das Monster / Viertel Londons, zerfallene Hinterhöfe […] /, der gasbeheizte Kamin wärmt nicht, die / Zimmertapete ist fleckig“ (Westwärts 1 & 2, 1975, S. 136). Das Rhine Hotel wurde 2013 geschlossen, das Gebäude verkauft; aktuell (Sommer 2015) wird es mit dem Nachbarhaus Nr. 50 umgebaut.
„Victorianische Monstersäulen und Portale /
die ganze Straße entlang“
Ein auffälliges Gebäude am Queensway ist auch das Warenhaus Whiteleys, das einen ganzen Straßenblock einnimmt. 1911 als Konsumtempel errichtet, diente es bis in die 70er Jahre hinein gewissermaßen als Londons ‚Kaufhaus des Westens‘. Ehe er Mitte der 60er Jahre mit den Rolling Stones berühmt wurde, arbeitete Brian Jones bei Whiteleys, und von seinem Einkommen hielt sich die Band über Wasser. In den 90er Jahren wurde Whiteleys dann zum Einkaufszentrum umgebaut und beherbergt heute neben Edelboutiquen auch das Gebäude des erwähnten früheren Odeon-Kinos. Brinkmann hat vermutlich die imposante spätklassizistische Fassade des Whiteleys vor Augen gehabt, wenn er in „Einige sehr populäre Songs“ von „victorianische[n] Monstersäulen und Portale[n] / die ganze Straße entlang“ schreibt (Westwärts 1&2, 1975, S. 136).
Fotos: Andreas Kramer
Die Stadt war zu dieser Zeit unbestritten das europäische Zentrum der Popkultur. Dorthin zu fahren, erinnert sich Rygulla, hieß denn auch in erster Linie, neue Bücher und Platten zu kaufen und sich über die Entwicklungen in der aktuellen angloamerikanischen Lyrik, Prosa und Popmusik zu informieren – Konzerte und gigs zu besuchen, in den angesagten Buchhandlungen in Zeitschriften, Zeitungen und Gedichtbänden zu blättern und zu Lesungen zu gehen. Wie sehr dieses Interesse mit der Realität des „Swinging London“ verbunden ist, zeigt auch folgende Beobachtung Brinkmanns: „Donovan, sein Hinkfuß, so geht er über die Charing Cross Road, wo ich bei Better Books und Foyles sitze und die vielen kleinen City Lights Pamphlets durchsehe“ (Erkundungen, S. 313). Im Gedicht „In London, Flat 6“ erwähnt Brinkmann, mit erneutem Verweis auf den britischen Singer-Songwriter, Gitarristen und Komponisten, Donovans „Suche / nach einem neuen Lied“ (Westwärts 1&2, 1975, S. 97) und macht damit – wie in dem zitierten Eintrag aus den Erkundungen – auf die Verbindung von Musik und Lyrik aufmerksam bzw. den eigenen Wunsch, Gedichte so einfach zu schreiben wie Songs, wie er ihn auch späterhin in der berühmten Vorbemerkung zu Westwärts 1&2 formulieren wird.
Foyles und Better Books:
Kult-Buchhandlungen im ‘Swinging London’
Die von Brinkmann erwähnte Buchhandlung W & G Foyle Ltd., kurz Foyles genannt, wo sein Freund Rygulla arbeitete, befand sich damals noch an ihrem angestammten Platz, in der Charing Cross Road 119; erst 2014 zog man ins benachbarte ehemalige St Martin’s College of Art um. Als führender Buchladen in Großbritannien war Foyles für sein umfangreiches Buchangebot bekannt, gerade im Bereich der neuen Literatur und v.a. aus kleinen und neuen Verlagen. Zugleich war es ein notorisch ‚exzentrischer‘ und ungeordneter Laden: was man auf den kilometerlangen Buchregalen fand, war mal nach Sachgruppen, mal nach Verlagen, mal alphabetisch – oder eben gar nicht geordnet. Das machte, wie ich mich von eigenen Besuchen her erinnere, die Suche nach bestimmten Titeln ungeheuer frustrierend, ermöglichte aber auch Zufallsfunde. Und mit dem Ziel, wirklich alles, was in englischsprachigen Verlagen erschien, zu kaufen, hielt man eine nicht geringe Zahl von Kleinverlagen am Leben.8So beschreibt es z.B. Paul Buck: „Heart of the Matter“. In: London. City of Disappearances. Hrsg. von Iain Sinclair, London: Hamish Hamilton … Continue reading
Der Konkurrent Better Books befand sich in unmittelbarer Nähe zu Foyles, nämlich auf der anderen Straßenseite, 94 Charing Cross Road, direkt an der Ecke zur New Compton Street, wo man 1964 ein zusätzliches Ladenlokal „Better Books up the Street“ angemietet hatte, das auf Comics, Lyrik und Film spezialisiert war. Better Books, vom Verleger Tony Godwin gegründet und nach dessen Besuch in San Francisco 1964 die berühmte City Lights-Buchhandlung imitierend, wurde Mitte der 60er Jahre von Bob Cobbing und Barry Miles geleitet.
Mehr noch als Foyles war Better Books damals Anlaufstelle und Sammelbecken für junge Dichter, Künstler und Filmemacher aus aller Welt. Möglich, dass Brinkmann hier erstmals von Andrew Crozier, John James und Peter Riley las oder hörte, deren Gedichte er und Rolf Eckart John später für die Zeitschriften Der Gummibaum und Der Fröhliche Tarzan übersetzten und die auch in Johns Anthologie Mondstrip vertreten sind. Umgekehrt erschienen englische Übersetzungen von Gedichten Brinkmanns in Peter Rileys Zeitschrift Collection.9Darunter sind auch zwei Gedichte, deren deutsche Originalfassung bislang unbekannt ist. Siehe hierzu im Katalog der Dokumentation Rolf Dieter … Continue reading Die Buchhandlung war zugleich ein Veranstaltungsort, wo Brinkmann die erstaunliche Lyrik-Renaissance jener Jahre sowie die entscheidende Erweiterung des Lyrik-Begriffs miterleben konnte, die sein Werk prägt. Hier lasen z.B. die Dichter der Beat-Generation wie Allen Ginsberg, Gregory Corso, Lawrence Ferlinghetti und Kenneth Rexroth, oft in Verbindung mit live gespielter Jazz und Rockmusik. Nur wenige Wochen nach Brinkmanns erstem Besuch in der Stadt fand die berühmte „International Poetry Incarnation“ vor mehreren tausend Zuhörern in der Royal Albert Hall statt, bei der u.a. William S. Burroughs, Ferlinghetti, Ginsberg und Ernst Jandl lasen. 10Die International Poetry Incarnation (deutsch: Internationale Verkörperung der Dichtkunst) war eine Dichterlesung, die am 11. Juni 1965 in der … Continue reading
Peter Whitehead: Wholly Communion (1965; ca. 35 min.)
Im Keller von Better Books – also wirklich im Underground – gab es auch Filmvorführungen mit Avantgardeproduktionen von Kenneth Anger, Gerard Malanga und Andy Warhol, sowie Ausstellungen und Happenings. Brinkmann sah „nachts [Warhols] Chelsea Girls im NFT [National Film Theatre, Anm. AK] an der Themse […], wo ich einschlief“ (Erkundungen, S. 257), wobei sich an dieser Notiz auch bereits eine innere Distanznahme des Autors von den neuen Avantgarde-Tendenzen ablesen lässt. Eine Ausstellung widmete sich übrigens 2012/13 der legendären Buchhandlung und ihrer Bedeutung als zentrale Anlaufstelle der künstlerischen Avantgarde und Undergroundszene in den späten 1950er- und 1960er-Jahren.
Kuratorin Rozemin Keshvani über die Ausstellung Better Books: Kunst, Anarchie und Apostasie –
FTHo | London | 28.6 – 29.7. 2012 und ZKM | Karlsruhe | 3.11.2012 – 6.11.2013.
Ein weiterer Buchladen mit angeschlossener Kunstgalerie und umfangreichem Veranstaltungsprogramm war Indica, der sich ursprünglich in Piccadilly befand, in unmittelbarer Nähe von William Burroughs’ Wohnung, ehe er von dem Journalisten und Schriftsteller Barry Miles übernommen und 1966 in den Stadtteil Bloomsbury, 102 Southampton Row, unweit des British Museum, umzog. Zugang zu den Publikationen der jungen Literatur, der ‚little magazines‘ und hektographierten Bändchen aus Klein- und Alternativverlagen, gab es schließlich auch bei ‚Compendium Books‘ im heutigen Szene-Stadtteil Camden, der schon damals ein reichhaltiges Angebot an englischsprachiger Beat- und Underground-Kultur führte. Aus diesem breiten Angebot legten sich Brinkmann, Rygulla und Rolf Eckart John, der ebenfalls kurze Zeit in London im Buchhandel tätig war, ihre Sammlung amerikanischer und englischer Zeitschriften, Gedicht- und Prosabücher an, die den Grundstock für die Anthologien Fuck You!, Acid, Silverscreen, Mondstrip und die (nicht erschienene) Die schnellste Pizza der Welt bildete. Auch die Einzelbände mit Gedichten von Ted Berrigan und Ron Padgett haben hier ihren Ursprung.
Brinkmanns Erkundungen
zwischen British Museum und Flamingo Club
Aber es waren nicht nur diese Orte und Vertreter der jungen Avantgarde in Literatur und Kunst, die Brinkmann in London anzogen, sondern auch die klassischen Pflichtstationen fur Kulturtouristen wie die National Gallery am Trafalgar Square und das British Museum in Bloomsbury. Bereits bei seinem ersten Besuch im April 1965 besucht er die großen Museen der Stadt: „gehe lange in der National Galerie herum[,] sehe Mantegna, den Manierismus, dann Monets Blumen, Seerosen, gehe lange in dem Britischen Museum herum“ (Erkundungen, S. 313). Im bereits zitierten Gedicht „In London, Flat 6“ erwähnt er wiederum die „schief hängenden Manieristen“ im Zusammenhang mit „Tomatensuppenbildern an der Themse“, eine Anspielung auf Warhols Pop Art, die die an der Themse gelegene Tate Gallery (heute: Tate Britain) seinerzeit anzukaufen begann.
An einer Stelle seiner Tagebuch-Aufzeichnungen betont Brinkmann auch sein „sehr ruhiges, klares Empfinden damals bei meinem 1. Besuch, wenig Pop, und Underground, Hash, Trips, sondern klare, scharfe und sogar etwas verträumte Ansichten“ (Erkundungen, S. 313). Das auf dieser Reise entstandene Gedicht, „To Lofty with Love / für ralf-rainer“ – es ist unterschrieben „R. Bri. / 11. 4. 65 / London, 4 Talbot Rd.“ – ist ein Beispiel hierfür.11Rolf Dieter Brinkmann: „To Lofty with Love / für ralf-rainer“. In: Rowohlt Literaturmagazin 36 (Rolf Dieter Brinkmann). Hrsg. von Maleen … Continue reading In diesem London-Gedicht, dessen Bilder sich vielleicht beim Blick aus dem „loft“, also Rygullas „oben“ gelegenen (Dach-?)Zimmer ergaben, dreht eine Comicfigur, der Ajax-Supermann, den Gasometer auf, um die eigene Schwere loszuwerden; die roten Busse, bei denen man unschwer an Londons Doppeldeckerbusse denkt, halten nicht mehr und die Wimpybars sind überfüllt. Dieses Pop-Gedicht Brinkmanns schildert ein von einem Comic überlagertes London und verleiht dem banalen Alltag etwas Schwereloses, nahezu Feierliches. In seinem Prosastück „Piccadilly Circus“ (1967) richtet Brinkmann dagegen einen gewissermaßen Warholschen Kamerablick auf das Leben und Treiben dieses Verkehrsknotenpunktes im Londoner West End, und die bunten und grellen Reklamebilder und -botschaften der Konsumgesellschaft erscheinen als ungleich lebendiger als jene verfallende bürgerliche Architektur, die für Vergangenheit und Erstarrung steht.12Im Rahmen einer 1966 ausgestrahlten Sendereihe „Straßen und Plätze“ gab die Literatur-Redaktion des Deutschlandfunk Rolf Dieter Brinkmann den … Continue reading
Brinkmann suchte aber nicht nur die Orte der neuen Literatur und Kunst, sondern auch die der jungen Musik auf. Von den zahlreichen Musikclubs in Soho nennt er den Flamingo Club (33-37 Wardour Street), im Herzen Sohos gelegen, der sich in einem Kellergewölbe unterhalb der Kneipe Whiskey-A-Go-Go befand und in dem vor allem Jazz und Rhythm & Blues live gespielt wurden (vgl. Erkundungen, S. 133). Barry Miles beschreibt den ‘Mingo, wie er auch kurz genannt wurde, als „funkier and jazzier than the other clubs“13Barry Miles: London Calling. A Countercultural History since 1945. London: Atlantic Books 2010, S. 122f., die es im Viertel gab.
Die englische Underground-Band Soft Machine, die sich nach einem Roman von Burroughs’ benannte, sieht und hört Brinkmann in einer Londoner Bingohalle (Erkundungen, S. 133). Ob er damit den UFO-Club meint, der Mitte der 60er Jahre im Keller von „Blarneys“, einer irischen Dance Hall, 31 Tottenham Court Road, seine Türen öffnete? Hausband im UFO war damals übrigens, neben Soft Machine, auch Pink Floyd. Der Take Five Club (vgl. Erkundungen, S. 248) hingegen war ein „übler stinkender Laden in Soho, dicke musikalische Neger-Soul-Musik und ein verbeulter Wassertopf auf einem Gaskocher hinter der verschmierten Theke“ (Erkundungen, S. 257); der vermeintliche Underground wird hier in Brinkmanns Wahrnehmung durch den schäbigen Dekor entzaubert.
Mit London verband Brinkmann zunächst – vielleicht mehr als mit anderen Orten – die individuelle und gemeinschaftliche Hoffnung auf einen Umbruch in Literatur und Gesellschaft. Diese Hoffnung hat sich jedoch nicht erfüllt. 1974 schreibt Brinkmann von einem Zwischenstopp in London auf seinem Rückflug aus Austin/Texas in einem Brief: „and then I went to London, the town that I had so friendly and exciting in my mind remembering the clubs the music the books the nightshows form 65 to 69 and now all rotten, rotten by touristic aspects and business“.14Rolf Dieter Brinkmann: ‘Brief an Sheila Schnell’. In: Briefe an Hartmut 1974-1975. Rowohlt: Reinbek 1999, S. 24. London erscheint ihm nun als eine der zahlreichen „Geisterstädte“ der westlichen Welt (Erkundungen, S. 247), wird geradezu archetypisch für den gescheiterten Aufbruch und die falschen Hoffnungen der westlichen Zivilisation: „zerfallenes London, elegische / Westendstraßen, elegische Reklamen, elegische / Theaterbeäude und Stripteaseclubs, elegische / dreckige Buchläden im abgelagerten / trüben Staub, tropfende kaputte Wasserrohre an / den Häuserfronten“ (Westwärts 1 & 2, 1975, S. 136).
So gerät Londons West End beim ‚späten‘ Brinkmann zur Allegorie auf das ‚Ende‘ des Westens, ja (westlicher) Zivilisation schlechthin. Die Busse der Londoner Linie 328, die auf der Westbourne Grove verkehren, zeigen noch heute als Endhaltestelle „World’s End“ an, was tatsächlich ein realer Ort am Ende der King’s Road in Chelsea, nahe der Themse ist – ein Hochhausviertel aus den 60er Jahren, das als gelungenes Beispiel des modernen sozialen Wohnungsbaus gilt. Beim Lesen dieses Namens „World’s End“ kann ein auswärtiger Besucher durchaus auf andere, apokalyptische Gedanken kommen. 15Anm. Di Bella: Brinkmann greift diesen Namen später in einer seiner Collagearbeiten auf. Vgl. Rolf Dieter Brinkmann: Aus dem Notizbuch 1972, 1973 … Continue reading
„Keiner aber achtete auf den englischen Linksverkehr“
(Jürgen Theobaldy)
Umso bitterer ist daher die Ironie, daß London auch der Ort sein sollte, an dem Brinkmann am Mittwoch, dem 23. April 1975 zu Tode kam. Zuvor hatte er in Cambridge an einem internationalen Lyrikfestival teilgenommen, das vom 18. bis zum 21. April dauerte16Anm. RDB: Es war die erste Ausgabe des Cambridge Poetry Festival, ausgerichtet von Elizabeth Thomas and Richard Burns. In der damaligen Ankündigung … Continue reading. Gleichwohl: der deutsch-britische Lyriker, Essayist, Literaturkritiker und Übersetzer Michael Hamburger, der mit Brinkmann dort erstmals zusammentraf, berichtet, Brinkmann sei nach der Lesung sehr erregt gewesen und habe ihn dringend gebeten, ihm eine Stellung in England zu besorgen, weil er nicht nach Deutschland zurückkehren wollte.17Anm. RDB: Brinkmann hatte zwei Lesungen dort, es sollten zugleich seine letzten öffentlichen Auftritte sein. Brinkmanns Lesungen vom 19. und 20. … Continue reading Zwar musste Hamburger das Anliegen ausschlagen, aber die beiden verabredeten ein Treffen in Hamburgers Londoner Wohnung. Dazu kam es aber nicht mehr – statt Brinkmann erschien Theobaldy und berichtet Hamburger von Brinkmanns tödlichem Unfall. Am späten Abend des 23. April hatten beide zusammen die Westbourne Grove im Stadtteil Bayswater überqueren wollen, „keiner aber achtete auf den englischen Linksverkehr. Brinkmann war schneller gegangen, oder ein Stückchen voraus, ich habe gerade noch zurückspringen können, Brinkmann aber konnte einem Auto nicht mehr ausweichen. Er war auf der Stelle tot”, so Theobaldy später.
Der Unfall ereignete sich unweit des Shakespeare Pub, Westbourne Grove 65. Diese Straße der neben dem Queensway die Hauptverkehrs- und -geschäftsstraße von Bayswater bildet. Sie verläuft in Ost-Westrichtung, ihr westliches Ende erstreckt sich ins Nobel- und Prominentenviertel Notting Hill. Hier an ihrem östlichen Ende jedoch ist ihre Bebauung uneinheitlich und eine Mischung der unterschiedlichsten Stilarten, wie die Fotos zeigen.
Fotos: Andreas Kramer
Die Kneipe befand sich am westlichen Ende auf der südlichen Straßenseite, Ecke Westbourne Grove / Garway Road. Der Pub wurde 2007 in „Westbourne House“ umbenannt und 2013 unter dem Namen „65 & King“ neueröffnet. Heute findet man auf der Westbourne Grove zahlreiche Restaurants, die die multikulturelle Einwohnerschaft dieses Stadtteils widerspiegeln: libanesische, persische, mexikanische und Thai-Restaurants drängen sich dicht an dicht. Dazwischen findet man auch das kleine „Tiroler Hut“ (der Name spielt sowohl auf den Hut wie das englische für Hütte an), einem 1967 eröffneten Speise- und Unterhaltungslokal, das Brinkmann bei seinen Gängen durch Bayswater sicherlich bemerkt hat.
Andere Geschäftslokale machen den scheinbar unaufhaltsamen Prozess der Gentrifizierung sichtbar: Starbucks und andere multinationale Ketten haben die ehemaligen Wimpybars ersetzt; es gibt mehrere Geschäfte für Designermöbel, auch die Wellness-Welle hat starke Spuren hinterlassen. Daneben aber findet man alteingesessene Läden fur Handwerkerbedarf, die nun als „Fliesenboutique“ firmieren, eine arabische Buchhandlung und ein wohl seit Jahrzehnten hier ansässiges Bestattungsunternehmen, J. H. Kenyon, das sich stolz auf Winston Churchill als ‚Kunden‘ bezieht. Auch wenn hier sonst nichts an Brinkmanns Unfalltod erinnert, macht die Westbourne Grove nach wie vor die Spannung von alt und neu, Leben und Tod gegenwärtig.
Zum Autor
Dr. Andreas Kramer, geboren 1963. Studierte Germanistik, Philosophie und Linguistik in Osnabrück, Münster und Chicago. Buchveröffentlichungen u.a. über Carl Einstein, Gertrude Stein und William S. Burroughs. Aufsätze u.a. zu Hugo Ball, Rolf Dieter Brinkmann, Film und Literatur, Friederike Mayröcker, Robert Musil und August Stramm. Seit 1995 lehrt er Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft am Goldsmiths College der Universität London. Lebt in London.
Weiterführender Text
Ralf-Rainer Rygulla: „Erinnerungen an die Entstehung des Romans Keiner weiß mehr“ → zum Beitrag auf diesem Blog
Anmerkungen