1974 unterrichtete Rolf Dieter Brinkmann (1940-1975) an der University of Texas in Austin, als ‚visiting writer‘ und träumte dort vom Süden (vgl. seinen Briefwechsel Briefe an Hartmut, Rowohlt 1999). Dieser für den Autor immens wichtige Aufenthalt hallt in vielen seiner Gedichte nach, z.B. im Langpoem „Im Voyageurs Apt. 311 East 31st Street, Austin“ aus Westwärts 1&2 (posthum 1975). CHRISTOF SIEMES, Literaturwissenschaftler und Redakteur im Feuilleton der ZEIT, fuhr dem Dichter mehr als 30 Jahre später hinterher, kam dabei aber auf ganz andere Gedanken. Folgen wir ihm auf seinem “großen Ritt”, den er auch in Bildern festgehalten hat. Ein Beitrag zur Reihe “Brinkmanns Orte“.
Erster Eindruck vom Süden: Aufgeräumt. Polierter Granit im Austin-Bergstrom International Airport. Autowracks? Von wegen! Texas ist Pick-up-Neu-Land. Auspuffrohre, dick wie Oberschenkel, der Liter Sprit kostet 35 Euro-Cent. Statt Sandwegen in Stockwerken gestapelte Highways. Schwitzende Hüfte? Falsche Jahreszeit. Frühlingserwachen, allenfalls bunter Pulli-Süden. Aber das Licht! Eindeutig südlich. Zu gleichen Teilen die hochauflösende Klarheit einer Computeranimation und der Goldschmelz eines Renaissancegemäldes. Die Skyline schimmert altrosa, der Rooftop-Pool im 19. Stock des Westin Hotel, der höchstgelegene der ganzen Stadt, blaut. Kein Grün. Der schneidende Wind bläst ihm eine Gänsehaut aus Wellen. Der Süden läuft sich noch warm.1Der vorliegende Beitrag ist zuerst erschienen unter dem Titel “Texas: Der große Ritt”. In: DIE ZEIT, 12/2016. Er wird hier ergänzt um … Continue reading
Infofilm (auf Englisch) über Austin/Texas (Dauer: 4’20”)
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Führt ein Weg vom Wörtersüden in den wirklichen?
Aber darf man das überhaupt – ein Gedicht mit der Realität abgleichen? Einen poetischen Indizienprozess führen auf den Spuren mehr als 40 Jahre alter Verse? Die zudem keinen Hehl daraus machen, ihren Gegenstand nur aus Wörtern zu konstruieren? Wenn das funktioniert, dann bei Rolf Dieter Brinkmann. Schnappschüsse wollten seine Texte sein, keine superartifiziellen Kunstprodukte. Aus den Dingen entsprangen für ihn die Ideen. Sein Motto: Mit der Realität gegen die Realität. “Es sind schnelle Schaltungen, Blitzlichter, Übersprünge, Gedankenfluchten, durch Wörter angereizt”, schreibt er in einem Brief aus Austin. Hier war er, der Beatpoet aus Vechta, damals 33 Jahre alt, von Januar bis Mai 1974 Lektor und visiting writer an der University of Texas. Hier entstand, unter dem Einfluss der Musik von Loudon Wainwright III, Chuck Berry und sicher auch einiger Joints, die wildeste Südvision der deutschen Literatur, als dritter Teil eines Gedichtzyklus.2Vgl. Rolf Dieter Brinkmann: “Im Voyageurs Apt. 311 East 31st Street, Austin”. In: ders.: Westwärts 1 & 2. Reinbek 1975, S.76–79, … Continue reading Ein Text, mit dem der Rap in die Lyrik kam, bevor er überhaupt erfunden war. Kann man so was als Reiseführer benutzen? Führt ein Weg vom Wörtersüden in den wirklichen? Ein Versuch in neun Schnappschüssen.
1.) Titel. Hübsch sieht er aus, der Block mit der Nummer 311 an der 31. Straße Ost. Zwei Dutzend Studentenwohnungen hinter rostrot-ockerfarbenem Klinker, ein lauschiger Innenhof mit Bänken um ein Blumengeviert, wo früher wohl mal ein Pool war. Brinkmann fand’s trotzdem “doof”. “Grässlich eingerichtet” sei das Two-Bedroom-Apartment, das er nach ein paar Tagen im Motel bezog. Tat der Inspiration aber offenbar gut. Die Lage war – und ist! – eins a. Ein ruhiges Sträßchen in unmittelbarer Nähe zum Campus der renommierten Uni, einem Gartenreich der Gelehrsamkeit, wo heute rund 100.000 Menschen lernen, arbeiten, lustwandeln, entlang schildkrötenbewohnter Teiche und unter knorrigen Eichen.
2.) Baumgesichter. Seinen Gedichtband Westwärts 1&2, in dem der Song vom Süden 1975 posthum erschien, illustrierte Brinkmann mit etlichen Baum-Bildern from Austin. Wie “ganz wirre Erzählungen” kam ihm das Geäst vor, “verzaubert, wüst, struppig”.3In den Briefen an Hartmut heißt es hierzu: “und auf einer Holzveranda würde ich jetzt lieber sitzen und in die wirklich fantastischen Bäume … Continue reading Unterm Laubdach streunte er, der auch im Autofahrerparadies USA Fußgänger blieb, herum, unablässig Eindrücke aufsaugend, wissbegierig. Die texanische Hauptstadt ist heute mehr als dreimal so groß wie in den Siebzigern und wächst so rasant wie kaum eine andere US-Metropole – dennoch ist die Atmosphäre auf dem Campus rund um den 94 Meter hohen Bibliotheksturm geradezu dörflich entspannt. “Wörter, Wörter, unter der Sonne geschmort, eine Art triefendes Brot” fiel dem Dichter zu dem weißen Dreißiger-Jahre-Bau ein. Er war ihm zugleich ein Sinnbild für Amerikas Größe und Wahn: Vom Dach des Gebäudes hatte wenige Jahre zuvor ein Architekturstudent und früherer Marine 16 Menschen erschossen. Darum ist die grandiose Aussichtsplattform des Towers auch heute noch allein im Rahmen einer Führung zu erklimmen. Für Brinkmann war dieser frühe Amoklauf nur ein weiteres Bauteil der “Albtraummaschine USA”, die sich in ihrer kapitalistischen Gier am Ende selbst zerstören würde.
3.) Vom Schwimmen in Seen und Flüssen. Brinkmann, der in Köln mit Frau und behindertem Kind in finanziell äußerst prekären Verhältnissen lebte, blühte unter der Sonne Texas’ auf. Er inszenierte sich als ruppiger Straßenköter, der nächtens als radfahrender Rebell auf den vielspurigen Straßen herumkurvte. Längst gibt es natürlich auch in der texanischen Kapitale ein Stadtrad-System. Hat Brinkmann es mit seinem Bike je nach Süden über den Colorado River geschafft, zum abgefahrensten Schwimmbad der Stadt, ach was, des Staates, der Staaten, des Südens überhaupt?
Den Barton Springs Pool gibt es seit 1918. Eine konstant 20 Grad warme Quelle sprudelt in eine von flachen Felsen gesäumte, natürliche Super-Wanne, ein 300 Meter langes Ganzjahresfreibad. Der Eintritt ist frei, die Open-Air-Umkleidekabinen haben das Zeug zum Designklassiker, die Sicht auf die Stadt ist sagenhaft. Alles einzigartig, so wie Eurycea sosorum, der kleine, blinde Barton-Springs-Salamander, der nur hier unter den Steinen im Wasser lebt.
4.) Live Music Capital of the World. War Brinkmann überhaupt ein Schwimmer? Sicher war er ein Kneipengänger. Die meisten Musikclubs, aus denen die Riffs und Reime direkt in seine Gedichte dröhnten (“Roll rüber, Beethoven!”), sind zwar längst Geschichte. Doch in der Welthauptstadt der Livemusik, wie sich die Stadt selbstbewusst nennt, wohnt jeder Schließung eine Neueröffnung inne. Im Moment soll es rund 250 Schuppen geben, in denen täglich Musik von Hand gemacht wird. Der Strip, die Reeperbahn von Austin aber ist die 6th Street – hier spielt sogar die Bedienung in der Imbissbude The Best Wurst Mundharmonika.
“Aber in der 6th Street hörst du nur Coverbands”, sagt Jason Weems, “echte Musik findest du woanders.” Der Mann aus Nordtexas mit Vollbart und Schiebermütze ist selbst ein Singer und Songwriter, seine Stimme: ein Gemisch aus Schotter und Honig. Zum großen Durchbruch hat es noch nicht gereicht, deshalb bietet Jason geführte Touren durch das Dickicht des Musiklebens an, drei Stunden in drei Clubs, in denen noch kein iPad das Schlagzeug ersetzt. Im White Horse auf der East Side zum Beispiel spielen The Grid Tones etwas, das Jason “Hipster-Tonk” nennt: eine Südstaatenmelange aus Blues, Cajun und Zydeco, von Akkordeon und Waschbrett angetrieben. Wer dazu nicht tanzt, tut es nimmermehr. Für Verklemmte empfehlen sich die Two Steppin’ Lessons – Volkstanz, der nicht peinlich ist und hier jeden Samstag für jedermann unterrichtet wird.
Under the Skin: the Austin, Texas venues music-lovers need to visit (Dauer: 4’03”)
Warum ist Austin so eine Musikstadt? “Das hat mit dem liberalen Geist zu tun”, sagt Jason. “Die Lage am Fluss war immer schon privilegiert, hier leben seit 550 Generationen Menschen zusammen! Da hat man Übung im Miteinanderauskommen.” Eine elektrisch verstärkte Fidel zu Brinkmanns Ehren kann Jason allerdings nicht auftreiben. “Versuch es in Luckenbach”, sagt er.
5.) Die Bluesspur. Luckenbach, Texas. Liegt zwar westwärts von Austin, wo Brinkmann nie war. Aber sein Süden ist ja auch eine Fiktion voller Widersprüche, in der man es mit den Himmelsrichtungen nicht zu genau nehmen sollte. Hauptsache, die grobe Richtung stimmt. Der Cowboy- und Volksmusik-Süden jedenfalls liegt hier, zwischen der Handvoll ergrauter Holzhäuser, Post Office, Schmiede, Beer Saloon, Dance Hall. Beschirmt von Eichen, so verzweigt wie ganze Romane. Deutsche Siedler gründeten das Dorf in den 1840ern, 1970 wurde es wiederbelebt und war schon zu Brinkmanns Zeiten ein Wallfahrtsort des Blues. Willie Nelson und Waylon Jennings steuerten die Hymne bei: “Out in Luckenbach, Texas / Ain’t nobody feeling no pain.” Heute gibt es jeden Tag Live-Gigs sowie ab und an größere Festivals. Ein Schrottauto auf der Wiese, die als Parkplatz dient, zeigt das Programm an.
Das Post Office mit angeschlossenem Saloon ist eine Wunderkammer des Texanertums: ausgestopfte und lebendige Tiere aller Art, eine deutsche Flagge aus den Gründerjahren unterm Dachfirst, Stiefelknechte aus Wurzelholz. Natürlich wird hier zwischen Kuhhörnern und vergilbten Western-Fotos auch ein Klischee bewirtschaftet, aber mit Liebenswürdigkeit und Hingabe. Luckenbach ist kein Museumsdorf, sondern gelebte Tradition. Ein Gutteil der Besucher trägt die Texasstiefel ganz unironisch, sogar die aus Pythonleder. Dazu stampft aus den aufgeklappten Holzläden der ehemaligen Scheune der Blues, ehrlich, erdverbunden, von elektrisch verstärkter Mundharmonika kunstvoll durchheult. Nicht das “olle psychodelische Gewehe und Gesummse”, das Brinkmann an der europäischen U-Musik so hasste.
“Out in Luckenbach, Texas / Ain’t nobody feeling no pain”
(Waylon Jennings)
6.) Der Schrein. Der südlichste Punkt, den der Dichter während seines Aufenthalts erreicht hat: das texanische Allerheiligste, “The Shrine”, The Alamo in San Antonio. Eigentlich handelt es sich nur um die spärlichen Überreste der spanischen Missionsstation, die an den Ufern des San Antonio River zu Beginn des 18. Jahrhunderts errichtet wurde. Aber im Kampf um die texanische Unabhängigkeit wurde hier im März 1836 eine multikulturelle Truppe aus rund 200 Freiheitssoldaten von mexikanischen Truppen abgeschlachtet – ein Massaker, das den Selbstbestimmungsdrang der Texaner nur befeuerte und sie kurz darauf zum finalen Sieg führte. Heute ist der Komplex eine pathetisch herausgeputzte Gedenkstätte und Weltkulturerbe. Selbst in der Nebensaison drängeln Patrioten und andere Schaulustige vor dem von Säulen flankierten Holztor, wo auch Brinkmann für ein Foto posierte. Der Dichter lacht, obwohl ihm der amerikanische Pionier-, Freiheits- und Eroberungsdrang zutiefst suspekt war, das ewige Westward ho!, das schon immer von Profitgier korrumpiert war: “Die Ökonomie verhindert Träume.”
Im Inneren von The Alamo stehen jede Menge Fahnen Spalier, darunter deutsche, schließlich zählen zu den toten Helden auch zwei Landsleute. Zahlreiche Wärter achten auf die Einhaltung der weihevollen Stimmung. Nur nichts anfassen! Sogar der Souvenirshop hat die Form einer Kirche. Topseller ist eine US-Flagge samt Zertifikat, das versichert, sie habe einen Tag über The Alamo geweht.
7.) Strandgut. Die “Ziviehlisation”, wie Brinkmann die Errungenschaften des Raubtierkapitalismus nannte, endet erst ganz weit unten, wo auf der Karte das Gelb des Landes auf das Blau des Golfs von Mexiko trifft. Bis dahin: eine endlose Folge von Farmland, Shoppingmalls, von Burger-Bratereien, Autohändlern, Tankstellen, Leuchtreklamen entlang des Highway 37 South. Erst wenn sich die letzte Brücke elegant über die Corpus Christi Bay geschwungen hat, beginnt das ganz Andere. Ein letztes Motel noch, das Passport Inn, dessen Bilderbuch-Abgeschrammtheit samt Klimaanlagen-Gesummse in Brinkmanns Hirn nicht besser hätte erdacht werden können. Dann das Schild, das den Übertritt in eine neue Welt markiert: Padre Island National Seashore.
Mehr als 100 Kilometer unberührter Strand und flache Dünen – das gibt’s nicht noch mal in den Staaten. Und bei Kilometer 32 beginnen die Abschnitte, die Little und Big Shell Beach heißen. Muschelsüden! Aber wie erkundet man dieses XXXL-Idyll? Mit dem Pkw natürlich. Naturschutzgebiet hin oder her, dies ist Amerika, Fortbewegung per Automobil ein Bürgerrecht, deshalb darf auf dem Strand gefahren werden, Höchstgeschwindigkeit 25 mph. “Aber du musst Allradantrieb haben!”, sagt Rangerin Marian McNabb, die am Parkeingang beseelt das Paradies erklärt und streng vor seinen Gefahren warnt. “Erst gestern ist einer im Sand stecken geblieben, den haben wir rausholen müssen. Kostet dich 2.000 Dollar!” Vorschriftsmäßig motorisiert, ist die Tour entlang des Flutsaums ein Traum. Flimmernde Helle, durch die blasiert guckende Pelikane torkeln. Reiher stehen wie hingetuscht in der Brandung. Im Windschatten der Düne Grillengezirp – der cricket-Süden! Weite. Leere. Brise. Und ein Streifen Sand, der hält, was sein Name verspricht.
“Ein staubiger Fetzen / der Süden, Muschelsüden, Barackensüden” (R.D. Brinkmann)
Kaum ist das Schild, das den Anfang der Shell Beaches markiert, im Rückspiegel verschwunden, tauchen die ersten kapitalen Exemplare auf. Bei der Rückkehr begutachtet Marian fachfraulich die Beute: zerbrechliche Steckmuschel, Olivenschnecke und ein paar Sanddollars, die wie Plastikspielgeld aussehen, in Wahrheit aber Seeigel sind. Und noch etwas lernt man beim beachcombing, dem Sammeln von Strandgut: dass der Muschel- längst ein Müllsüden ist. Kanister. Tüten. Flipflops. “Zwei Strömungen bringen uns den ganzen Mist aus dem Meer”, sagt Marian. “Jedes Jahr wird es mehr.”
8.) Am Zaun. Als sei’s ein wild gewordenes Stück vom Faden der Ariadne, schlängelt sich die südliche Grenze dahin, immer dem Verlauf des Rio Grande folgend (der in echt viel rinnsaliger ist, als sein Cinemascope-Name vermuten lässt). An der schärfsten Biegung des Flusses liegt South Point. Einwohner: knapp 1.400. Viel wichtiger: Weiter südlich geht nicht, jedenfalls nicht in Texas. Und was jenseits der Grenze liegt, ist eine andere Geschichte … Von South Point aus kann man ihn schon sehen, jenen berüchtigten Zaun, der die USA vom Schmuddelkindnachbarn im Süden zu trennen versucht. Eigentlich handelt es sich eher um eine Palisade, ähnlich jenen Bollwerken, hinter denen sich zu Pionierzeiten die weißen Landeroberer vor den Angriffen der Ureinwohner verschanzten. Die moderne Variante besteht aus gut vier Meter hohen, rostigen Eisenpfeilern, die sich dicht an dicht durch das Acker- und Gartenland ziehen.
Doch vom Southmost Boulevard fällt der Blick auf etwas Unerhörtes: eine Lücke! Größer als ein Scheunentor. Ein Grenzer im weißen Geländewagen der Border Patrol hält Wache. Endet hier die Expedition zum Südpol der Poesie? Noch nicht. Ein Schild steht am Straßenrand: “Durch den Zaun. Kein Pass nötig. Täglich geöffnet von 7 bis 17 Uhr”.
9.) Im Dschungel. Das Sabal Palm Sanctuary liegt in einer Schlaufe des Rio Grande. Weil der antimexikanische Schutzwall nicht zu teuer werden durfte, folgt die Palisade nicht dem windungsreichen Lauf des Flusses, sondern kürzt schnurgeradeaus ab und schafft ein paar Quadratkilometer Niemandsland. Zum Glück für Sabal palmetto, die Palmettopalme mit ihren fächerförmigen Blättern, die in diesem toten Winkel ihr letztes Refugium auf texanischem Boden hat.
Ist man einmal durch den Zaun, rückt üppiges Grün immer dichter an den Weg heran. Bis sich eine Lichtung öffnet, wie im Fiebertraum taucht eine weiße Villa auf. Der Plantagenbesitzer Rabb ließ sie im 19. Jahrhundert errichten; die Dampfschiffe, die sein Zuckerrohr zur Küste brachten, legten quasi in seinem Vorgarten an.
Heute beherbergt das Haus die Zentrale des 225 Hektar großen Schutzgebiets. Anhand einer Luftaufnahme erklärt einer der Mitarbeiter die außergewöhnliche Lage – und liefert gleich eine Analyse der Grenzpolitik, die man als Europäer dieser Tage besonders interessiert vernimmt. “Der Zaun ist eine einzige Geldverschwendung”, sagt er. “Wer wirklich rüberwill, braucht keine 20 Sekunden. Überall kannst du die Abdrücke schlammiger Füße auf den Pfeilern sehen!” Das Ganze sei nur eine psychologische Maßnahme, um die Bevölkerung weiter im Norden in Sicherheit zu wiegen. Dann reicht er Fernglas und Wegbeschreibung und rät, vor dem Abstecher in den Urwald unbedingt Mückenschutz aufzutragen. Eine Flasche steht draußen auf der Holzveranda.
Mit Wegen und Stegen ist der Schnakensüden gut erschlossen. Drückende Schwüle, kehlige Tierlaute und die Schautafel mit den 14 ortsüblichen Schlangenarten vermitteln ausreichend Abenteuergefühl. Schwer bewaffnet mit armlangen Teleobjektiven, schnüren passionierte Vogelkundler durch das Dickicht. Grünhäher, Rotkardinal und der gelbe Maskentrupial geben tolle Bilder ab. Wie Bärte von Riesen hängen graue Flechten von den Bäumen. Der Soundtrack: raschelndes Laub. Überall keimt und wuchert es. Brinkmann-Süden. Manchmal vor lauter Details schwer zu durchschauen. Wie ein Gedicht.
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Zum Autor: Christof Siemes, geb. in Mönchengladbach, Studium der Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte, Promotion in Freiburg i. Br. (bei Gerhard Kaiser) über das lyrische Werk Peter Huchels. Henri-Nannen-Schule in Hamburg, seit 1993 bei der ZEIT in verschiedenen Funktionen: Redakteur und Ressortleiter ZEITmagazin, stellv. Ressortleiter Feuilleton, Kulturreporter, Redaktionsleiter ZEIT-App. → Zu den Beiträgen von Christof Siemes im Feuilleton der ZEIT.
Siehe außerdem zum Thema “Brinkmann in/und Austin” das Interview mit Hartmut Schnell (auf diesem Blog) sowie den Artikel von Frank Schäfer (11. Juni 2021).
Anmerkungen