Interview mit Henning John von Freyend

Von 1969 bis 1975 steht der Maler und Künstler Henning John von Freyend (*1941) in enger Verbindung mit Rolf Dieter Brinkmann, den er auch mehrfach porträtiert. Brinkmanns radikaler Subjektivismus ist nach seiner Aussage für die künstlerische Entwicklung Freyends von zentraler Bedeutung.  Ein umfangreicher Briefwechsel zwischen Brinkmann und Freyend blieb bislang unveröffentlicht.  Das folgende Interview führte Gunter Geduldig mit dem Künstler.

Herr John von Freyend, wo haben Sie Rolf Dieter Brinkmann kennen gelernt?1Das Interview erschien zuerst unter dem Titel “‘Er klapperte den ganzen Tag auf seiner Schreibmaschine’. Ein Gespräch mit Henning … Continue reading

Ich hatte von einem Buch über eine neue amerikanische Szene gehört und Rolf Dieter Brinkmann zu einer Veranstaltung in die Firma eingeladen, die ich in Köln gegründet hatte. Diese Firma betrieb für die Vervielfältigung grafischer Arbeiten im Siebdruckverfahren eine Werkstatt. Die Produkte wurden von uns in einem Ladenlokal zum Verkauf angeboten. Es war ein Gewerbebetrieb, zu dem noch zwei Mitarbeiter gehörten, die ehemalige Mitschüler von mir in Basel waren.2Es handelt sich hierbei um die Maler Bernd Höppner (*1941 in Chemnitz) und  Thomas Hornemann (* 1943 in Hamburg zum Fragebogen). Der Betrieb nannte sich Galerie Exit Bildermacher. So waren wir auf dem Galeriezettel aufgeführt, der damals in Köln ca. 30 Galerien umfasste.

Henning John von Freyend, Winter 1968-9

Henning John von Freyend, Winter 1968/69. Foto: privat

Im angelsächsischen Sprachbereich hatte ich überall Schilder für die Bezeichnung AUSGANG gesehen und fand es werbemäßig sinnvoll, das Unternehmen EXIT zu benennen. Wir arbeite­ten mit unseren guten handwerklich erlernten künstlerischen Fähigkeiten ohne metaphysischen Anspruch und wollten dazu selbstständig Gewer­be betreiben. Der Verzicht auf die Beurteilung durch Experten, ob das was wir herstellten als Kunst gilt und auf deren unausgesprochener Übereinkunft beruht, lief auf eine Kontroverse mit dem Kunstbetrieb hinaus, die bei Gründung gar nicht beabsichtigt war. In Gesprächen drängte mich auch Rolf Dieter Brinkmann zu einer Entscheidung. Ihm widerstrebte zu Recht auch das Gruppenwesen, beim dem ehrlich gesagt auch nicht viel Nennenswer­tes entstand. Von mir gab es unter anderem eine grafische Arbeit, auf der ein Turnschuh dargestellt ist; das fand ich keinen zufrieden stellenden Horizont. Meine Entscheidung fiel dahingehend aus, freie Malerei im Medium Öl auf Leinwand als freier Maler, wohlgemerkt, fortschrittlich zu entwickeln, und die Bildermacher gingen ihrer Wege.

Rolf Dieter Brinkmann wohnte also, um bei Ihrer Frage zu bleiben, der EXIT-Veranstaltung bei. Ich fragte ihn: „Was hältst du von dem Wort Bewusstseinserweiterung?“ – „Was soll das heißen?“ Das war zu der Zeit ein Modewort, das ich schon in den USA im Zusammenhang mit Allen Ginsberg auf einem Plakat gelesen hatte. Er konnte mir keine vernünfti­ge Antwort geben und die Reaktion fand ich damals gut. Es entwickelte sich dann ein regelmäßiger Kontakt zwischen ihm und EXIT.

»Exit-Leute/wilde Kiff-Gelage/Nächte, Nächte, Nächte, herumhängen, bei Exit morgens baden, reden, reden, reden, und ich rede und träume und sie gucken wieder doof/Linda Pfeiffer, R.E. John, die Laden-Idee/London, London/Fahrten/mit Peter Meyer/:ja, eigentlich bin ich doch ein Felsen, wenn ich das rasende Hin und Her sehe.3Rolf Dieter Brinkmann: Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand. Hrsg. von Maleen Brinkmann. Reinbek: Rowohlt 1987.«

Es gab auch Besuche bei ihm zu Hause in der Engelbertstraße bei seiner Familie. Er trug in diesem Sommer 1969 viel das Hemd, das später Vorlage meines Bildes wurde, unter einer roten Lederjacke. Die At­mosphäre bei ihm war anre­gend und lebendig, er fühlte sich wohl hinter seinem Schreib­tisch, legte Platten auf und hatte mit uns offene Gesprächspartner, die in vielen Dingen gleich gesinnt waren, was Avantgarde-Inhalte betraf. Seine Bekanntheit machte ihn schon etwas zur Autorität, aber oft verstand ich nicht, was er meinte, wie auch sein Nachwort im Acid-Buch, das er erst im Winter des Jahres geschrieben hatte, „Der Film in Worten“. Wo er sich wichtig machte mit dem ganzen Kram aus Amerika, den er kaum richtig als Rolf Dieter Brink­mann erklären konnte, wenn man nachfragte. Es machte jedenfalls Eindruck und schien enorm neu und wichtig zu sein.

Bei Brinkmann wird die Gruppe EXIT immer wieder mit „Pot-Rausch“ in Verbin­dung gebracht.

Bei EXIT gingen viele Leute ein und aus, die mit Narkotika in Kontakt waren und durch Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz sich daher illegal verhielten. Ich nehme an, dass er das gern beobachtete und die Möglichkeit hatte, das bei EXIT hautnah zu erleben, was im Acid-Buch nur literarisch verarbeitet ist.

Aus dem Kontakt zu Brinkmann entstand dann eine richtige Freund­schaft.

Ein großes Wort. Zu­mindest eine sehr wei­te geistige Übereinstimmung bei möglichst nicht verzerrter Wahrnehmung über alles, was wir gemeinsam erörterten und versuchten, vernünftig einzuord­nen. Da waren viele gleiche Emp­findungen unserer Generation, aber auch Unterschiede verschiedener Herkunft. Ich hatte beispielsweise an einem humanistischen Gymna­sium mein Abitur gemacht und eine abgeschlossene Berufsausbildung als Grafiker in der Schweiz. Unser schlichtes Auftreten als Bilder­macher gefiel ihm wohl. Die Ge­genständlichkeit in den Grafiken. Das Understatement auch, und ihn beeindruckte unser professionelles Können im Umgang mit dem Me­dium Bild.

Man muss sich vergegenwärti­gen, dass 1970 die Kunst für den Demokratisierungsprozess ge­braucht wurde. Die Kunst sollte frei sein. Es ging auch um die Modernisierung des Kunstbetriebs. Die Künstler hatten ihre Freiheit in Anspruch zu nehmen; ihre Funktionalisierung als freie Kunst in der wissenschaftlichen Industriegesell­schaft wurde betrieben. Das waren ähnlich herausfordernde Vorgänge wie die im Literaturbetrieb auf ihre Weise; die Streitigkeiten mit der Gruppe 47, worüber sich Rolf Dieter Brinkmann gern ausließ. „Verlän­gerte Vergangenheit in die Zukunft, keine Gegenwart“, das waren dann so verblüffende Sätze von ihm, wor­über er wohl lange nachgedacht hat, und man musste sich den Kopf dann darüber zerbrechen, was er meinte. Oder auch „Lernen heißt Gegenwart zerlegen“ ist so eine Schöpfung von ihm.

»30. Sept. 1971, Donnerstag Um anzufangen machte ich die Fotografen-Tour durch zerfallne Teile der Stadt, schoß 60 Bilder mit der Instamatic Schwarz/Weiß, ist eine Art, sein Ich zu vergessen und seine volle Aufmerksamkeit der Umgebung zu widmen/zu lernen/Wo Ich Bin Und Was Ich Denke Oder/Und Zu Wissen Was Ich Weiß/langsam und dann mehr, eine Aufnahme nach der anderen, und ist das nicht eine Reise? Plötzliche Anfälle von Angst, Hier zu erstarren, aber ich bin schon lange fort.4Rolf Dieter Brinkmann: Erkundungen, S. 57.«

Deshalb war uns bald gemeinsam, einen Weg als authentische Per­sönlichkeiten für die Zukunft zu finden. Ich fing damit an, mich an der Objektivität eines Fotos zu ori­entieren. Das war ein ziemlich kon­sequenter Schritt für mich als Maler. Man nimmt als Mensch mit seinem psychischen Apparat die Realität nicht wahr, wie die mechanische Aufnahme einer Kamera es uns wahr machen will.

An der Stelle habe ich als Maler angefangen, mein Œuvre zu entwic­keln. Rolf Dieter Brinkmann war in solche Vorgänge involviert, weil sie auch für sein Schreiben von Belang für ihn selber waren. Es ging wie­derholt um den Begriff Sinnlichkeit als Zugang zur Welt. Gewöhnlich richtete die Kunst der Akademie und des Betriebs mit den Experten sich nicht so aus. Es ging mehr nach Marcel Duchamp und nihilistischen Entwürfen, wenn die Experten darin übereinkamen, was als Kunst gelten soll und was überhaupt zu vermark­ten ist. Denn nur das gilt als Kunst.

Dass Rolf Dieter Brinkmann sehr ambitioniert war, geht ja auch deutlich aus seinem Werk hervor. Auch dort, wo er keine Abbildungen benutzt, finden wir häufig visuelle Ele­mente, etwa in dem flächigen Textgitter zahlreicher Gedich­te in Westwärts 1 & 2.

Rolf Dieter Brinkmann, Winter 1970. / Foto: privat

Rolf Dieter Brinkmann, Winter 1970.  Henning John von Freyend: „Da sind wir auf unseren gemeinsamen Gängen einmal in einem Textilgeschäft gelandet. Wir hatten dafür zwar im Grunde gar kein Geld, aber wir haben trotzdem Hemden und Anzüge anprobiert.“

Es gab ein starkes gemeinsames In­teresse am Bildnerischen. Wir liefen mit offenen Augen durch die Welt und erlebten in Bildern. Das ‚Kunst machen zu wollen’, der Zwang, war töricht. Vielleicht ist das bei anderen ‚geistigen Arbeitern’ nicht so ausge­prägt. Oft kam er zu uns und wollte wissen, was wir gerade so machten. In der EXIT-Zeit, meine ich jetzt. Das Gegenständliche in den Bildern faszinierte [ihn]. Damals sah man in den öffentlich zugänglichen Galerieräu­men mehr die Kunst, die sich für die Strategien der Experten gebrauchen ließ – sie hatten wohl wirklich Stra­tegien – wie z.B. freie informelle Kunstwerke, die in ihrer Tendenz Freiheit demonstrieren sollten.

Da fanden sich für Rolf Dieter Brink­mann bei uns mehr Anhaltspunkte für Produkte aus betont subjektiver Geisteshaltung, wie Motive aus dem Alltäglichen, die Witz hatten. Das war 1969 in der EXIT-Zeit und dem Acid-Buch. Ich selbst konnte mich mit dem, was die populäre amerika­nische Kunst, besonders Warhol und Lichtenstein, zeigte, nicht zufrieden geben. Ich hatte schließlich ausgie­big zeichnen gelernt und wollte im Gegenständlichen auch durch Form­gebung gestalten. Damit sollte wohl nach Vorstellung der amerikanischen Künstler ein für allemal aufgeräumt werden. Finden Sie die Sachen nicht auch ziemlich doof bei allem glamourösen Anschein? Heute Mil­lionen wert. Aber die Tendenz, sich mit dem zu beschäftigen, was irdisch ist, gefiel mir auch. In der Tradition der Moderne sehe ich mich in der Linie von Picasso und nicht der von Duchamp, wenn Sie eine seriöse Aussage über Kunst haben wollen.

Also je konkreter das The­ma, desto interessanter für Brinkmann. Das war bei ihm selber ja nicht anders. Ideen langweilten ihn, er bevorzugte als Motiv seiner schriftstel­lerischen Arbeit die konkrete Wirklichkeit. Und das war ja zunächst die unmittelbar ihn umgebende Stadtwirklichkeit.

Ja, genau. Wenn wir uns trafen, ha­ben wir gesagt: Wir machen jetzt mal einen Spaziergang. Wir sind häufig gemeinsam durch die Stadt gelaufen, einfach so und haben geguckt. Wir haben uns Schaufenster angesehen, sind stehen geblieben und haben die Auslagen eines Uhrengeschäf­tes betrachtet und uns darüber ausgetauscht. Aus diesen zahlrei­chen Gesprächen entstand eine enge, eine wunderbare Verbindung zwischen uns beiden, obwohl ich mich fürs Schreiben überhaupt nicht interessierte. Ich war ohnehin infolge meiner Ausbildung, die methodisch war und fast wissenschaftlichen Charakter hatte, eher für die Darstellung der objektiven Wirklichkeit als dafür, phantasie­volle Fiktionen zu konstruieren. Und da machte es mir die Fotografie möglich, die Dinge erstmal so zu sehen, wie man sie tatsächlich sieht, getrennt von den Affekten, bevor man sie abbildet.

Sie haben das Fotografieren richtig gelernt?

Ja, das gehörte mit zur Ausbildung.

Wenn Brinkmann fotogra­fierte, sahen die Ergebnisse ja eher laienhaft und unprofessionell aus.

Das war zum großen Teil Absicht. Wir beiden haben darüber viel ge­sprochen. So wie ich das Fotogra­fieren gelernt hatte, handelte es sich um eine aufwändige Angelegenheit mit sorgfältigem Arrangement und komplizierter Technik, Stativ, Be­leuchtung, Filtern und so weiter. Brinkmann und ich, wir fragten uns, warum es nicht möglich sei, so zu fo­tografieren, wie man sieht oder was dem nahe kommt. Man sagt auch Momentaufnahmen. Das Objekt nicht vorher umständlich arrangieren und inszenie­ren, sondern etwas sehen und – zack.

Deswegen fanden wir auch die da­mals aufgekommenen einfachen Instamatic-Kameras gut. An diesen Kameras gab es keine umständlichen Einstellmöglichkeiten, die ohnehin keinen Zweck gehabt hätten, da die Fotos mit den einfachen Linsen in keinem Fall besonders scharf wer­den. Für uns war es nicht wichtig, ob das Foto toll wird, sondern ob der Blick toll ist, den wir einfingen. Spannend ist doch einzig, festzuhal­ten, was und wie ich den Augenblick erlebe. Nicht: wie arrangiere ich die Realität sondern wie sehe ich sie.

»Dann sprechen wir über die Motive: das Tun, das Suchen, das Malen, er kann schöne Sachen malen, beneide ich F. / und zugleich geht mir auf, daß ich ja auch schöne Dinge beschreiben könnte, und dann gerate ich durcheinander, was ist schön? Ich sehe immer zugleich auch das Häßliche in der Umgebung des Schönen./Was schreiben? Und dann ist da wieder der Zwang, das schaffen zu müssen, und zugleich wieder der Gelddruck5Rolf Dieter Brinkmann: Erkundungen, S. 316.«

“Rolf Dieter Brinkmann”, 1972 Öl auf Leinwand, 100 x 80 cm Bild-Text-Montage von Ursula Schüssler mit einem Briefzitat aus Rom, Blicke (S. 321)

Eine Aktion, bei der sich der Fotograf ganz zurücknimmt.

Ja, um das festzuhalten, was man sieht, ohne das so schnell zu wissen, dass man das sieht und was das ist, was man eigentlich sieht.

Trotzdem entstanden auf diese Weise ganz unnachahmliche Aufnahmen mit individueller Handschrift. Schief von unten aufgenommen, ein Himmels­ausschnitt, ein kahler Ast, der Kopf einer Straßenlaterne, vielleicht noch eine trostlose Hausecke: unverwechselbar ein Brinkmann-Foto.6Zur Fotografie bei Rolf Dieter Brinkmann in praktischer wie poetologischer Hinsicht siehe Roberto Di Bella: “Have camera, will travel. Die … Continue reading

Malenswerte Bilder. Heute gilt ein Foto bei Experten als Kunst. Da­mals noch nicht. Gerhard Richter ist der am höchsten bezahlte Maler im internationalen Kunstbetrieb. Ich denke im Rückblick, dass Rolf Dieter Brinkmann genau wie ich das Bestreben hatte, die Übereinstim­mung mit der Realität zu erreichen, d. h. mit dem, was außerhalb von uns, unabhängig von uns besteht, und diese Übereinstimmung mit der realen Außenwelt nennen wir doch Wahrheit. Und das war anfangs, um 1970, so wichtig, um einen Anfang zu finden. Die Umsetzung von Zu­ständen und Interpretationen durch die Gefühlswelt ist erst der nächste Schritt, der Malerei erst zur Malerei macht, zur peinture. Ich habe daraus nach 40 Jahren eine Malerei entwickelt, die ein angefangenes Bild über die Bearbeitung von informeller Indifferenz zur Lesbarkeit eines geordneten Motivs führt. Psychologisch kann man den Vorgang auch „wo ES war, soll ICH werden“ heißen.

Aus der künstlerischen Zu­sammenarbeit erwuchs dann irgendwann zwischen Ihnen und Brinkmann so etwas wie Rivalität.

Inwiefern?

In den Erkundungen heißt es einmal: „Freyend, der Maler: sieht alles viel lieber verschwommen, Farben, Schatten, den Schleier über den Dingen, ich weiß nicht“ .7Rolf Dieter Brinkmann: Erkundungen, S. 290. Verschwommenheit ist ja nicht gerade das künst­lerische Ideal, das Sie ge­meinsam anstrebten. Trifft Sie die Kritik?

Ich würde eher umge­kehrt sagen: Brinkmann besaß eine ausgeprägte Detailverliebtheit.

Auf die er selber stolz war.

Meiner Auffassung nach guckte er zu genau hin, so genau, dass er mit­unter, wie man so sagt, den Wald vor lauter Bäumen nicht sah. Er sah jede Zigarettenkippe, jeden Schmutz, jede Unregelmäßigkeit.

»Und was ich in Ihnen träume, ist der absolut häßliche Geschmack und Stumpfsinn/und je häßlicher das ist, umso besser. Ich meine Häßlichkeit kann es gar nicht genug geben (/ist sehr zeitgenössisch/ […]8Rolf Dieter Brinkmann: Erkundungen, S. 103. Ich habe Schwierigkeiten, die ganze enorme Häßlichkeit der Gegenwart zu akzeptieren. […] Wir sind gewiß in ein häßliches, schmerzhaftes, wüstes Labyrinth von Welt geboren worden, von Anfang an. (Keiner will das wahrhaben!)9Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke. Hrsg. von Maleen Brinkmann. Reinbek: Rowohlt 1979, S. 202.«

In Rom insbesondere.

Auf diese Weise kann man die Ge­samtheit nicht erfassen. Das grenzt fast schon an …

1976, Öl auf Leinwand, 100 x 100 cm

“Autobahn”, 1976, Öl auf Leinwand, 100 x 100 cm

… Hyperrealismus.

Und mit diesen übergenauen Be­schreibungen erlebt man auch nicht mehr die Wirklichkeit so, dass man mit ihr umgehen kann. Also ertragen kann. Das ist ja auch ein Manko von Keiner weiß mehr [R. D. Brinkmanns 1969 erschienener Roman, Anm. R. Di Bella]. Nach meinem Geschmack jedenfalls, obwohl ich das Buch so genau nicht gelesen habe. Ich denke, dass Rolf Dieter Brinkmann in dieser Hinsicht auch noch zu ‚kulturgehorsam’ war und gar nichts von der befreienden Wir­kung der ‚Psychoanalyse wusste.

Und Sie selber interessierten sich auch weniger für die Wahrnehmung und Registrie­rung des Hässlichen?

Vor meiner Zeit in Köln lebte ich anders. Mit dem ehrgeizigen Gedan­ken, es als Maler zu schaffen – Rolf Dieter Brinkmann gebrauchte oft das Wort ‘durchkommen’ –, und bei einer bestimmten Gelegenheit nahm ich Außenwelt so wahr, dass es mir wie Schuppen von den Augen fiel. Es kommt aber doch darauf an, die in­nere Welt der Gefühle zu berücksich­tigen und zu ordnen. Das geschah aber anfangs nicht, bzw. wusste kaum jemand mit der neuen Situati­on richtig umzugehen. Die Realität fiel über einen her und man war für den Umgang damit nicht ausgerü­stet. Deshalb diese wüsten Verklei­dungen, Frisuren und zum großen Anteil kulturlosen und kulturfeind­lichen Verhaltensweisen. Die ganze Anti-Haltung – auch von Herrn Beuys als Künst­ler, die man von ihm verlangte –, lässt doch auf verstörte Gefüh­le schließen. Ich fing an, Din­ge zu malen, die weder schön noch eigentlich hässlich zu nen­nen sind. Es sah so aus, und davon lebte ich. Die Autobahn, der Blick aus dem Fenster. Eine Stadtland­schaft. Die Welt von heute. Ich woll­te mit den Dingen umgehen können und darin leben. Die Autobahn ist ein sehr schönes Bild und heute im Besitz einer Steuerberaterin. Es zeigt auch in seiner Farbgebung, wie ich die Autobahn sehe, etc.

»Fr. erzählt von dem Blau, Gelb, Rot: aus denen alle anderen Farben zu mischen sind, seien (Und Weiß? Weiß er nicht.) Na, und? Und er dachte einmal, daß auf einem anderen Stern vielleicht ganz andere Farben möglich seien, und dann merkte er die Grenze in seinem Bewußtsein, eine Gummiartige Wand. Auch die Fantasie ist eine Begrenzung.
Ja, sage ich, aber warum nicht das versuchen?
Fr. begnügt sich, bewundernswert und von mir beneidet in dem Punkt, mit dem, was er in der Gegenwart findet.
Er sagt: Ich habe mit deiner Verzweifelung nichts zu tun.
Ich: bin betroffen? Bin ich verzweifelt? Daß alles so ist, wie es ist?
Ich: Wie ist es denn?10Rolf Dieter Brinkmann: Erkundungen, S. 332.«

 

Hat Brinkmann Sie dabei beeinflusst?

Brinkmann hat mich als Gesprächs­partner beeinflusst. Auch in sei­ner Autorität als relativ bekannter Schriftsteller war Rolf Dieter Brink­mann für mich eine entscheidende Bekanntschaft. Ich wollte erfolg­reich sein und sein früher Tod war für mich auch ein – unersetzlicher – Verlust auf dem Weg, Karriere zu machen. Ich nehme an, dass er sich zu einem maßgebenden Intellek­tuellen entwickelt hätte, was er zu Lebzeiten noch nicht war, auch auf dem Markt, weil er die Fähigkeit zur Einsicht hatte und die Reise nach Rom und die nach USA111974 unterrichtete Rolf Dieter Brinkmann an der University of Texas in Austin, als ‚visiting writer‘. Diesen Aufenthalt dokumentiert er … Continue reading ihn schon sehr vernünftig gemacht hatten. Ehr­lich gesagt habe ich seine gesamte Schreiberei nicht gemocht, und es interessierte mich auch nicht so. Ich erfasste im Umgang mit ihm seinen Sinn für das Richtige, und es war schon der wahre Jakob, wenn man neben ihm herlief. „Wenn du es nicht machst, dann macht es ein Anderer“, sagte er dann. Und meinte den Paradigmenwechsel in der Malerei.

Henning John von Freyend: Bilder einer Werkstatt

Er hatte immer den Roman über unsere Generation vor Augen, der Nachkriegsge­neration12So heißt es hierzu in den Erkundungen u.a.: “zu Roman, Meinem Roman, wie ich ihn mir vorstelle: als eine Art Entwicklungsroman mit Reisen, … Continue reading, der mit einem Einschweben in Berlin-Tempelhof beginnen sollte, und das spielte auch in der Kunst oder für die Funktionalisierung der Kunst durch die Experten im Kunstbetrieb eine Rolle. Die Sache, dass die Kunst nach dem Krieg nicht gegenständlich gewesen ist (es vermied ge­genständlich zu sein) und dann in der Gegenwart immer indifferenter geworden ist. Er hätte ja auch einfach der bekannte Schriftsteller bleiben können, der er damals war, nach seinem Erfolg auf dem Weg zur ‚Berühmtheit’. Es lag ihm aber nicht so sehr, sich als Simulant aufzuführen und sich im freien Raum schwebend hervorzutun, dem Freiraum, der der Kunst zugemessen wird. In dieser Hinsicht haben wir uns gestärkt, er wollte genau wie ich auch erst mal zu sich selbst kommen für die Aufgaben, die vor ihm lagen.

… und zwar während der äußerlich stummen Phase seiner Sprachskepsis nach Gras [Brinkmanns letzter zu Lebzeiten veröffentlichter Gedichtband, Anm. R. Di Bella]. Für Brinkmann war es darüber hinaus auch eine Phase, in der er einen neuen Zugang zur Natur und zu einfachen sinnlichen Vorgängen und Verrichtungen suchte. Er beschreibt in den Erkundungen, wie Sie sich während der gemeinsamen Zeit in Longkamp um die Nahrungszubereitung kümmerten. Ihn hat das offen­sichtlich total gefesselt, dass Sie kochen konnten und er nicht und dass Sie sich soviel Zeit für das Kochen nahmen.

Einen Zugang zur Natur brauchte er wohl nicht zu suchen, aber er wollte mal aus der Stadt raus und sich in der Stille erholen von den ihn erschreckenden Eindrücken, die ihn dort verfolgten, und er wollte wieder zur Besinnung kommen. Da kam das Angebot mit dem Wochenendhaus oder der Hütte bei Bernkastel an der Mosel von einem Bekannten gerade zur rechten Zeit.13Über seine Zeit mit Brinkmann in Longkamp sprach Henning John von Freyend auch mit dem Regisseur Harald Bergmann im Rahmen seines mehrteiligen … Continue reading

»Fr. ißt immerzu, kaum hat er etwas hintergeschlungen, macht sich Kartoffel brät Blutwurst, ißt er noch Brote hinterher.14 Rolf Dieter Brinkmann: Erkundungen, S. 306.«

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Henning John von Freyend (2010). Foto: privat

[Lacht] Ja, das ist fast schon dif­famierend, wenn er dort sinngemäß schreibt, Freyend kocht unentwegt. Das kam dadurch, dass er wohl wenig Einsicht dafür aufbringen wollte, welche Mühe es bedeutet, bis man Kartoffeln geschält und Gemüse geputzt hat, bevor man mit dem eigentlichen Kochvorgang beginnen kann. Das braucht ja alles wirklich sehr viel Zeit, erst recht unter so primitiven Bedingungen, wie wir sie damals in der Mühle in Longkamp angetroffen hatten. Auf gewisse Weise war Rolf Dieter Brinkmann sehr wirklichkeitsfremd, wenn etwas nicht seinen Wünschen entsprach. Die Malerei erfordert viel Handwerk, während ein Dichter weniger zu han­tieren hat. Er klapperte den ganzen Tag auf seiner Schreibmaschine rum und machte offenbar auch Notizen über mich nach meinen Erzählungen, die er oft falsch verstanden hat; vielleicht tat er das so, weil sie dadurch als Literatur besser wirken.

Das Interview im Originallayout der Erstveröffentlichung → hier herunterladen.

 


Zur Person

1941 in Hamburg geboren. Nach dem Abitur am Birklehof in Hinterzarten studiert Henning John von Freyend von 1963 bis 1968 an der Kunstschule Basel Form- und Bildgestaltung. 1968 Arbeit als Werbegrafiker in den USA (New York). 1969 gründet er mit Thomas Hornemann und Berndt Höppner in Köln die Gruppe EXIT – Die Bildermacher, die bis 1972 besteht. Nach Experimenten mit dem Siebdruck wendet er sich der Ölmalerei zu, die bis heute Schwerpunkt seiner künstlerischen Arbeit ist. Henning John von Freyend lebt in Sievernich (Kreis Düren), gemeinsam mit der Schriftstellerin Linda Pfeiffer, die ebenfalls mit Brinkmann befreundet war (→ zum Fragebogen).

Weitere Informationen
Private Website des Künstlers
Henning John von Freyend: Vier Fragen zu Rolf Dieter Brinkmann

Sammlung Freyend
2017 erwarb die Stadt Vechta ein umfangreiches Konvolut bislang unbekannter Arbeiten und Dokumente Brinkmanns. Sie befanden sich bis dato im Besitz Henning John von Freyends. Es handelt sich um zehn schwarze Kladden, Arbeitsjournale im Sinne Brechts oder Skizzenbücher, wie der Maler sie nennt, chronologisch von 1971 bis 1975 geführt, in die er die Texte Brinkmanns aus Köln, Rom, Austin und London integrierte: Briefe, Postkarten sowie zehn Gedichte. Diese “Sammlung Freyend” wurde anschließend an die von Prof. Markus Fauser geleitete Rolf Dieter Brinkmann-Arbeitsstelle der Universität Vechta übergeben, wo sie zunächst für Forschungszwecke weiter ausgewertet werden soll. Detaillierte Informationen zum Konvolut gibt es hier (Video der Pressekonferenz der Stadt Vechta, 29.9.2017), hier (FAZ-Artikel, 3.10.2017) sowie besonders detailliert hier (achtseitige Sonderbeilage der Oldenburgischen Volkszeitung, 30.9.2017).

Anmerkungen[+]

Über Roberto Di Bella

Dr. Roberto Di Bella: Literaturwissenschaftler & Kulturvermittler
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