Interview mit Hartmut Schnell

AUS DEM ARCHIV
Rolf Dieter Brinkmanns 62. Geburtstag im Jahr 2002 wurde im Litera­turhaus Köln (damals noch an seinem ersten Standort im Mediapark) mit der dreiteiligen Veranstaltungsreihe “Köln, Schnitte” begangen. Hierzu gehörte auch eine Lesung aus dem umfangreichen Briefwechsel mit Hartmut Schnell, der drei Jahre zuvor unter dem Titel “Briefe an Hartmut” bei Rowohlt erschienen war. Ergänzt wurde der Abend am 16. April 2002 – Brinkmanns Geburtstag – durch ein wenige Tage zuvor aufgezeichnetes Telefoninterview mit dem heute in Chicago lebenden deutschstämmigen Germanisten. Brinkmann hatte Schnell während seines Aufenthaltes als ‚poet in residence‘ 1974 in Austin/Texas kennengelernt.

Lesen Sie im Folgenden den vollständigen und von Dr. Hartmut Schnell autorisierten Text des Gesprächs. Die Fragen stellten Thomas Böhm, der damalige Leiter des Literaturhauses, und Roberto Di Bella.

Die Erstveröffentlichung erfolgte in Orte. Räume. Mitteilungsblatt der Rolf Dieter Brinkmann-Gesellschaft Vechta. Ausgabe 2002 (1 & 2), S. 27–40  und war somit nur einer sehr begrenzten Zahl von Personen zugänglich. Die Vorbemerkung und einige Zitate aus dem Briefwechsel wurden für diesen Blogeintrag ergänzt, ebenso wie alle Zwischenüberschriften und Bilder.


Vorbemerkung

 

[…] aus den kleinen Lautsprechern hier, in meinem kleinen Mittelzimmer der Wohnung, wo ich mich provisorisch eingerichtet habe, nach einem Jahr Italien, einem Vierteljahr Zwischenzeit vergangenen Winter und dann nach den 4 Monaten in Austin (die Eingewöhnungszeit ist für mich noch gar nicht wieder da, ich habe das Empfinden, als sei ich nur auf einer Durchreise hier), kommt die Musik von Elton John, Goodbye Yellow Brick Road, Töne und Stimmungen, die mir viel offener und weiter erscheinen als die graue westdeutsche Gegenwart und Sprache, die nun wirklich so negativ und haßvoll aufgeladen ist […].

So schreibt Brinkmann am 3. Juni 1974 an Hartmut Schnell (BH 7). Den drei Jahre älteren damaligen Literaturstudenten hatte Rolf Dieter Brinkmann, wie bereits erwähnt, während seines Aufenthaltes in Austin kennen gelernt, wo er von Januar bis Mai 1974 einen Lehrauftrag an der University of Texas als ‚poet in residence‘ wahrgenommen hatte. Die Freundschaft mit dem 1971 aus Deutschland nach Amerika ausgewanderten Schnell wird für den Autor zur Grundlage einer intensiven Korrespondenz, die unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Köln einsetzt. Der Brief vom 3. Juni 1974 ist der erste; der letzte trägt das Datum 22. März, einen Monat vor seinem Unfalltod in London. Damit begleitet der Briefwechsel die Arbeit an Westwärts 1&2, jenem Lyrikband, mit dem Brinkmann sich nach seiner über vier Jahre währenden Isolation auf der literarischen Bühne zurückmelden wollte und der wenige Wochen später ausgeliefert wird.

Den konkreten Anlass zum Austausch mit Hartmut Schnell hatte dessen Entschluss geliefert, zum Abschluss seines Studiums in den USA eine Arbeit über den offenbar auch von Brinkmann geschätzten expressionistischen Lyriker Alfred Lichtenstein zu verfassen. Bereitwillig und sehr informiert gibt Brinkmann Auskünfte und Einschätzungen zu „AL als Dichter der Megalopolis und als Poet der großen wüsten Stadt“ (BH 11), womit er sich, wie meist bei seinen literarischen Wahlverwandten, zugleich selbst porträtiert. Doch bereits kurze Zeit später ändert Schnell seine Pläne. Sein Ziel ist nun, sich mit Brinkmanns eigenem Werk zu beschäftigen und als Abschlussarbeit eine Auswahl an Gedichten ins Englische zu übersetzen und einen Kommentar hierzu anzufertigen.1Anm. R. Di Bella (04/2020): Vgl. Hartmut Paul Schnell: Translated poems of Rolf Dieter Brinkmann. Austin: Austin/Texas University, Thesis 1975, 101 … Continue reading

Der besondere Wert dieses Briefwechsels liegt in der Ausführlichkeit und Geduld, mit der Brinkmann seinem amerikanischen Freund auf alle seine Fragen sein Werk betreffend antwortet. Er lässt zudem seine gesamte Vita und Entwicklung als Autor Revue passieren, liefert zu zahlreichen seiner (neuen wie früheren) Gedichten wertvolle Details und Hintergründe und erläutert seine Arbeitsweise. Brinkmann hat die Bedeutung dieser Poetik in Briefen bereits selbst erkannt: die Durchschläge der umfangreichen, oft über Tage fortgeführten Briefe an Hartmut Schnell legt er sorgfältig in einem Schnellhefter ab, sah sie „als Material für neue Arbeiten“ und „eine Selbstfindung“, wie Maleen Brinkmann in ihrer  Editorischen Notiz vermerkt.

Siehe zu Brinkmann in Austin auch die Reportage und Bilder des ZEIT Online-Redakteurs Christof Siemes auf diesem Blog.


“Er war ja so sensibel”.
Ein Interview Interview mit Hartmut Schnell

 

Hartmut Schnell, im Januar 1974 ist Rolf Die­ter Brinkmann als ‚writer in residence’ an die Universität Austin gekommen. Kannten Sie ihn vorher schon als Autor?

Nein, ich hatte vorher nie von ihm gehört, weder von seinen Werken noch von seinem Namen.

Erinnern Sie sich, welchen Eindruck Brinkmann auf Sie machte, als Sie ihn das erste Mal trafen?

Daran kann ich mich schon noch erinnern. Das erste Mal, dass ich ihn traf, war im Seminar; es waren ungefähr acht, neun Studenten dort versammelt, und er kam herein – ich glaube, das war eine ganz neue Situation für ihn, und er hat die ganze Sache ziemlich formell angefasst. Er war ziemlich formell, und auch sehr streng eigentlich. Er sagte uns von vornherein, was er von uns erwartete und dass er wirklich lebhafte Diskussionen erwarte, dass wir mitmachen und nicht einfach da als Hörer herumsitzen und erwarten sollten, er würde uns alle möglichen Weisheiten erzählen.

Manche Lehrer sind ja streng, um sich keine Blöße zu geben. Hatten Sie den Eindruck, dass er sich deswegen so verhielt oder wollte er da­mit einen Anspruch formulieren, dass man sich ernsthaft mit Literatur auseinander setzen müsse, wenn überhaupt?

Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube, dass Ersteres zutrifft. Denn ich war im 10. Semester, dachte also über meine Magisterarbeit nach; es waren auch einige Doktoranden anwesend. Ich glaube, er war stark beeindruckt oder wollte auf jeden Fall sehr akademisch und formell die ganze Sache bringen, damit er sich keine Blöße gibt – so wie Sie das schon sagten.

Lektüren zum Rausch-Wert der Wörter


Können Sie sich noch daran erinnern, wie die erste Begegnung im Seminar war? Schildern Sie doch kurz die Situation. Welches Thema hatte das Seminar
überhaupt ?

Wie gesagt, er stellte sich vor und machte uns von vornherein klar, dass er unsere Mitarbeit erwarte, und gab uns auch eine Leseliste. Das Thema des Seminars, soweit ich mich erinnern kann, hatte zwei Hauptpunkte: Zum einen den Einfluss der amerikanischen Lyrik auf die deut­sche und zum zweiten – was ihn wahrscheinlich genauso stark interessierte – die Sprache selbst, den Einfluss der Sprache auf den Menschen, die Sprache als Droge (Benn spricht einmal vom Rausch-Wert der Wörter). Es hat ihn sehr fas­ziniert, was man mit Sprache machen kann und wie sie auf den Menschen wirkt, und wir lasen in diesem Zusammenhang die Werke von Wil­liam S. Burroughs, Carlos Castaneda, Leslie A. Fiedler und anderen, also von Leuten, die selber mit Drogen experimentiert haben und in deren Werk sich dies wohl auch widerspiegelt.

Die Themen, die Sie genannt haben, sind ja typi­sche Brinkmann-Themen. Hat denn der Autor im Seminar auch über seine eigenen Texte gesprochen?

Sehr wenig eigentlich. Nun hielt er neben dem Seminar außerdem ein Colloquium, das einmal in der Woche abends stattfand. Das war offen für alle, es kamen oft Studenten und Professoren, und dort hat er aus seinen eigenen Werken vor­gelesen. Aber im Seminar sprach er sehr wenig über seine eigenen Sachen.

The University of Texas at Austin (Hauptgebäude)

The University of Texas at Austin (Hauptgebäude) // Foto: Christof Siemes

Bei einer dieser Colloquiums-Veranstaltungen trat einmal ein anderer Professor, nämlich Reinhold Grimm auf. Bei der Gelegenheit hat Brinkmann nicht sehr gut – oder soll ich sagen: auf seine Art und Weise – reagiert.

Ja, das war eine Veranstaltung, die mit Brink­mann an sich gar nichts zu tun hatte; die Uni lädt ja alle möglichen Leute ein, um Lesungen abzuhalten. Dieser Reinhold Grimm, ein sehr re­nommierter Germanist, sollte also einen Vortrag halten. Ich hatte Brinkmann von seinem Apart­ment abgeholt, und auf dem Weg zur Uni legten wir eine kurze Pause ein und kauften in einem li­quor store eine kleine Flasche Wild Turkey. Das ist ein Bourbon. Diese kleine Taschenflasche tranken wir dann auf dem Weg zum Seminar aus. Keiner von uns beiden war betrunken, wir waren vielleicht leicht angeheitert. So kamen wir zur Lesung. Der Raum war voll besetzt, wir haben nur noch ganz hinten einen Stehplatz gefunden. Der Vortrag hatte noch nicht angefangen, ging aber gleich los.

Während des Vortrags machte sich Brinkmann alle möglichen Notizen; er sagte nichts und unterbrach auch niemanden. Aber als uns dann zum Schluss des Vortrags Herr Grimm aufforderte, Fragen zu stellen, legte Brinkmann gleich los und sagte, dass er noch nie in seinem ganzen Leben so viele Klischees auf einmal gehört habe, und las dann auch alle Klischees, die er sich aufgeschrieben hatte, vor. Einige der Professoren, die Brinkmann sowieso nicht leiden konnten, drehten sich, während er diese Klischees vorlas, ganz böse zu ihm um und attac­kierten ihn mit den Augen. Er hat sich davon aber nicht aus der Fassung bringen lassen. Der arme Herr Grimm ist ganz rot im Gesicht angelaufen und sagte – unglücklicherweise für ihn selbst –, er habe diese Klischees doch absichtlich benutzt. Das hat natürlich ein Gelächter bei der ganzen Zuhörerschaft hervorgerufen. Wir verließen dann den Raum, ich weiß nicht, was dann später noch geschah mit dem Herrn Grimm und dem Rest der Fragen; wir sind einfach raus.

Hier in Amerika hat er Anerkennung als Dichter gefunden.


So wie Sie Brinkmann in dieser Situation be­schreiben, erinnert er ja wirklich an den Rolf Dieter Brinkmann, von dem man auch hier in Deutschland ein bestimmtes Bild hat, wenn man z. B.
Rom, Blicke liest, wo die Grundhaltung die der Ag­gression ist. Wenn man aber Brinkmanns Briefe an Sie liest und wenn man sieht, dass er auf die Zeit in Austin sehr gelassen und fast heiter zu­rück blickt, dann muss man doch fragen: Was, glauben Sie, ist in Austin mit ihm passiert, warum fand er da zu so einer Lockerheit?

Die Lockerheit hat ganz offensichtlich mehrere Gründe. Zunächst: Ich glaube, was dem armen Brinkmann in Deutschland gefehlt hat, war nicht Aufmerksamkeit – die hatte er ja genug gehabt – , aber Anerkennung. Anerkennung als Dichter und als jemand, der wirklich etwas zu sagen hat. Möglicherweise hat er es sich ja selber durch sein etwas derbes – sagen wir vielleicht besser: unkonventionelles – Benehmen versaut. Aber hier in Amerika hat er Anerkennung gefunden, hier war er Lehrer in einem Seminar, und das war für ihn sehr wichtig und hat ihm einen richtigen, wie man hier sagt „shot in the arm“ gegeben. Zum anderen hatte er in Deutschland immer finanzielle Schwierigkeiten gehabt, und die hatte er hier nicht, denn er wurde als Asso­ciate Professor bezahlt. Das war ein recht gutes Gehalt, und soviel ich weiß, hat er davon den größten Teil an Maleen geschickt, aber es blieb immer noch genug für ihn übrig. Er hatte hier keinerlei Geldsorgen. Diese zwei Aspekte waren sehr wichtig für ihn.

Vorderseite einer Original-Postkarte Brinkmanns an Henning John von Freyend (? Februar 1974)

Zum Dritten sind natürlich auch die Umgangsformen der Menschen hier – wie Menschen miteinander umgehen und wie sie sich anziehen – viel offener als in Deutschland. Das hat ihm wohl sehr zugesagt. Ich kann mich erinnern, dass er immer viel herumgelaufen ist (später legte er sich dann ein Fahrrad zu). Mit seinen Halbschuhen hat er sich dann Blasen gelaufen. Wir schlugen ihm daraufhin vor, sich doch Tennisschuhe zu kaufen. Und da hat er sich dann Tennisschuhe gekauft und ist dann immer in seiner schwarzen Hose und seiner schwarzen Jacke und oft einem schwarzen Rollkragenpull­over und den weißen Tennisschuhen herumge­laufen. Das hat ihn gar nicht gestört, und das hat auch hier niemanden gestört. Ich glaube, in Deutschland würde das mehr auffallen. Was Ver­haltensweisen und Kleidung angeht, hat man hier mehr Ellbogenfreiheit. Das war für Brinkmann auch ein ausschlaggebender Punkt.

Brinkmanns Faszination für die Natur


Und wenn wir jetzt einmal die Universität ver­lassen und einen Schritt hinaus in die ameri­kanische Landschaft machen: Können Sie sich daran erinnern, ob es einen Moment gab, in dem der Funke übersprang und aus dem Lehrer und Dichter Brinkmann der Freund Rolf Dieter wurde?

Ja, daran kann ich mich sehr gut erinnern. Das war ziemlich früh, während der ersten Wochen seines Seminars. Wir, meine Frau Betsy (der Brinkmann das Gedicht „Ein Skunk“ gewidmet hat) und ich beabsichtigten, nach San Antonio zu fahren, eine Stadt südlich von hier, eine etwas größere Stadt als Austin. Da habe ich mir ge­dacht: Der Brinkmann kennt niemanden hier, lad’ ihn doch mal ein, vielleicht kommt er ja mit. Und ja, er kam gerne mit. Während der Fahrt, kann ich mich noch gut erinnern, mussten wir wenigstens zehn Mal anhalten, weil er wahnsinnig fasziniert war von den verästelten und knorrigen Eichen­bäumen. Er hielt seine kleine Kamera immer bereit und sagte dann immer wieder: „Oh, halten Sie mal an!“, und ist dann ausgestiegen und hat fotografiert. Das Resultat kennen Sie als Bilder in Westwärts 1 & 2, wo viele dieser knorrigen Eichenbäume zu sehen sind. Es war Frühling, die Jahreszeit, in der die Eichen hier die Blätter verlieren, die Zeit in der die neuen Blätter die alten verdrängen. Wenn dann fast nur Baum und ganz wenig Grün zu sehen war, war Brinkmann ganz fasziniert.2Anm. R. Di Bella (04/2020): „‚Think Trees‘“ schreibt Rolf Dieter Brinkmann auf die Rückseite einer Postkarte, die er seinem Künstlerfreund … Continue reading

 “und auf einer Holzveranda würde ich jetzt lieber sitzen und in die wirklich fantastischen Bäume schauen, die wie ganz wirre Erzählungen für mich waren, verzaubert, wüst, gedreht, wild, struppig, fantastische Formen von Pflanzen, – sie haben mich da ja in Austin ziemlich fasziniert, wie Du weißt.”

(Briefe an Hartmut, S. 29)

Was mich jetzt überrascht. Denn wenn ich bislang Rolf Dieter Brinkmann las, habe ich ihn niemals als von der Natur fasziniert empfunden.

Er war es aber wirklich. Ich kann Ihnen eine an­dere Geschichte erzählen. Betsy und ich besaßen ein Stück Land, ungefähr zwei Morgen, etwas außerhalb der Stadt, ein schön bewachsenes Stück Land mit Bach und Felsbrocken. Dorthin fuhren wir einmal, um Vorbereitungen für den Bau eines Hauses zu treffen. Wir hatten Brink­mann eingeladen, mitzukommen, und da hat er sich dann auf einen Stein am Bach gesetzt und war ganz still. Wir selber haben unsere Arbeit gemacht, und vielleicht eine oder anderthalb Stunden später saß er immer noch an der glei­chen Stelle, ganz friedlich und ruhig. Er hat die Natur und die Stille und die frische Luft und das Rauschen des Baches vollkommen in sich aufge­nommen. Das hat ihm wirklich etwas gegeben. Später hat er mir dann erzählt: „Das war einer der schönsten Momente in Austin.“

Austin war für Brinkmann Arkadien. Ihm widerfuhr dort etwas, was er weder in Vechta noch in Köln, Rom oder Graz erlebt hatte: Er fühlte sich pudelwohl und war mit fast allem, was er sah und hörte, einverstanden. Auch mit sich. (Ursula März in DIE ZEIT)

Hat er Sie darum beneidet, dass Sie den Schritt gewagt haben und sich völlig losgelöst haben und Anfang der 70er Jahre aus Deutschland ausgewandert sind?

Wir haben zwar nie darüber gesprochen, aber ich glaube schon. Denn ich erinnere mich zum Beispiel an zwei Postkarten, die er mir kurz nach der Lesung in Cambridge aus London geschickt hat. Diese beiden Karten erhielt ich, nachdem ich erfahren hatte, dass er überfahren worden ist. Es handelte sich somit um die Nachricht eines Verstorbenen. Er schrieb mir, dass er vorhabe, seinen Wohnort in den USA zu wählen, und dass er hoffe, an irgendeiner Uni hier eine Anstellung zu bekommen. Er wollte sich hier wenigstens für eine Zeit niederlassen, das war ihm ganz ernst. Ich glaube, dass ihm die amerikanische Land­schaft sehr zugesagt hat, die Landschaft und die Weite. Köln ist ja eine alte Stadt, wo alles ganz eng zusammengepfercht ist, und hier ist eine Stadt weit auseinander gezogen. Man fühlt sich hier nicht so eingeengt, wenn man sich durch die Stadt bewegt.


Lassen Sie uns noch einmal auf den Briefwechsel zurückkommen. Zu Beginn, gleich im ersten Brief, stellt Brinkmann für Sie Material über den expressionistischen Dichter Alfred Lichtenstein zusammen. Sie wollten Ihre Magisterarbeit über Lichtenstein schreiben, haben sich dann aber entschieden, über Übersetzungen von Brinkmann-Gedichten zu schreiben bzw. selber Übersetzungen von Brinkmann-Gedichten anzufertigen. Was hat für Sie den Ausschlag gegeben, das Thema zu wechseln?

So genau kann ich mich daran nicht erinnern. Es gab hier nicht viel Sekundärliteratur über Lichtenstein, was mich jedoch überhaupt nicht gestört hätte, weil mich der Mann interessierte; die expressionistische Lyrik hat mich überhaupt immer sehr interessiert – auch jetzt noch. Aber wegen der Bekanntschaft mit Rolf schaute ich mir seine Sachen etwas näher an und dachte mir: Vielleicht würde er sich selbst auch freuen, wenn ich über seine Gedichte schriebe. Das hatte bestimmt nicht nur mit dem Literatur-, sondern auch mit diesem sehr persönlichen Aspekt zu tun. Letzterer hat wohl den Ausschlag gegeben.

‘Mammutbriefe’ aus Köln nach Austin


Die Briefe an Sie aus Köln nach Austin sind wie die meisten Briefe Rolf Dieter Brinkmanns sehr lange Briefe. Einer dieser Briefe ist, glaube ich, fast 50 Seiten lang …

… Mammutbriefe.

 Ja, und Brinkmann nutzt gewissermaßen die Gelegenheit, sich bei seiner Arbeit an Westwärts 1 & 2 über seinen eigenen biographischen und literarischen Werdegang klar zu werden und schreibt Ihnen das alles. Fühlt man sich denn da als Briefpartner überhaupt angesprochen?

Ich muss sagen, ich fühlte mich sehr ange­sprochen. Denn ich war so naiv und habe mir gar keine Gedanken darüber gemacht, ob er das für sich selbst oder die Nachwelt macht. Wenn ich darüber nachgedacht hätte, wäre mir das natürlich klar geworden. Ich war nicht nur erfreut, ich fühlte mich auch, wie man so sagt, vor den Bauch geklatscht, dass er mir erlaubte, sowohl an seinem ganz persönlichen als auch seinem literarischen Leben teilzunehmen. Ich sah das ganz persönlich, dass er Lust hatte, mir alles mitzuteilen. Ich bezog wirklich naiv alles auf mich ganz persönlich und fühlte mich stark angesprochen. Es war wie eine Ehre für mich, dass Brinkmann so viel über sein persönliches Leben erzählte und auch darüber, wie er mit seinem neuen Gedichtband vorankam.

Im Rückblick nach jetzt bald 30 Jahren: Wie hat die Begegnung mit der Person Rolf Dieter Brinkmanns, die Auseinandersetzung mit seinen Texten Ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit, vielleicht sogar Ihr Leben verändert?

Ampel Austin

Bertram Rutz: “Ampel Austin”. Aus dem 22teiligen Linolschnitt-Zyklus   Rolf Dieter Brinkmann Revisited, nach Originalfotografien des Autors.

Er hat einen großen Einfluss auf mich gehabt. Ich nehme auch jetzt noch Gedichte von ihm in meinem Unterricht durch und die Studenten sind davon immer sehr begeistert. Den größten Ein­druck und den stärksten Einfluss hat Brinkmann auf mich ausgeübt, indem er mir klar gemacht hat, dass wir wirklich nur diesen Moment haben, um richtig zu leben. Brinkmann sagte einmal: „Die Zukunft ist eine Erfindung der Vergan­genheit, und ich will nichts davon wissen.“ Er hat immer versucht, den Moment so voll wie möglich auszuschöpfen und ganz intensiv zu erleben. Das hat wirklich den stärksten Eindruck auf mich gemacht: stehen zu bleiben, und wenn es nur der Weg zum Briefkasten ist oder zum Auto oder die Straße runter, und sich Sachen einmal wirklich ganz genau anzuschauen. Die alltäglichen Gegenstände, die wir gar nicht mehr beachten, ja nicht einmal mehr sehen, wieder genau betrachten und die in ihnen enthaltene Schönheit und Klarheit erkennen.

Hierfür rückt bei Brinkmann natürlich die Sprache als das wichtigste Medium in den Vordergrund, auch gerade die Sprache als etwas Problematisches.  Sie haben Ihren Ph. D., also Doktortitel, dann in Linguistik gemacht.

Ja, in Angewandter Linguistik.

Ist das eine Konsequenz aus der Beschäftigung mit Sprache bei Rolf Dieter Brinkmann?

Ich glaube nicht. Ich war Doktorand in Germani­stik und wollte an sich über Brinkmanns Briefe dissertieren, habe das aber fallen lassen und bin umgeschwenkt auf Angewandte Linguistik im Zusammenhang mit Fremdsprachenpädagogik. Das sagte mir eher zu und machte mir mehr Spaß. Das andere war mir zu wenig handfest. Ich bin ein eher praktisch veranlagter Mensch. Die Literatur hat mir nach einer gewissen Zeit nicht mehr den Spaß gemacht, den ich hätte haben sollen. Statt irgendwo als Professor für Literatur zu arbeiten, wollte ich lieber etwas Handfesteres erlernen.

Ihre Übersetzungen von Gedichten Rolf Dieter Brinkmanns ins Englische dürften die ersten überhaupt gewesen sein. Ist denn Brinkmann heute als Schriftsteller in den USA überhaupt bekannt?

In den Germanistik-Abteilungen schon, aber sonst: nein. Gedichte werden in Deutschland wie auch hier wenig gelesen. Die breite Masse kennt ihn auf gar keinen Fall. Es gibt ja nur wenige Übersetzungen von Brinkmann ins Englische. Obwohl gerade ein kleines Bändchen herausgegeben worden ist, von einem Verlag hier in Austin, mit Übersetzungen aus den Pi­loten. Der Übersetzer, er heißt Mark Terrill, ein Amerikaner, der aber in Hamburg wohnt.3Anm. R. Di Bella (04/2020): Hartmut Schnell bezieht sich hier auf Like a Pilot: Rolf Dieter Brinkmann. Selected Poems 1963-1970. Translated by Mark … Continue reading Wir stehen seit Jahren in Verbindung und haben auch über seine Übersetzung gesprochen. Beim Lesen seines Vorwortes war mir klar, dass er Rolf Dieter Brinkmann nie persönlich kennen gelernt hat. Es sind auch einige Schnitzer darin, die ich herausgenommen hätte. Aber es ist seine Arbeit, nicht wahr?

Brinkmann wurde wahrscheinlich 200 Jahre zu spät geboren.

 

Wo wir gerade über Veröffentlichungen sprechen: Nachdem Brinkmanns Briefe an Sie erschienen, gab es hier in Deutschland zahlreiche Besprechungen.4Anm. R. Di Bella (04/2020): Vgl. die Angaben am Ende des Blogbeitrags Wie haben Sie denn die Reaktion hier auf die Briefe empfunden? Ein Kritiker schrieb, das Buch sei ein Blick in die Seele der Beat-Generation. Fanden Sie die Rezensionen, soweit Sie sie gesehen haben, angemessen oder wurde der Briefwechsel unnötig überhöht?

Bei diesen Rezensionen habe ich bemerkt, dass diejenigen Publikationen, die normaler­weise Belletristik besprechen – FAZ, ZEIT und so weiter -, keine so positiven Rezensionen brachten. Da sitzen wahrscheinlich Leute, die nur konventionelle Lyrik besprechen; für die ist Brinkmann – wie Wondratschek das einmal genannt hat – „too much“.5Anm. R. Di Bella (04/2020): Schnell bezieht sich hier auf Wolf Wondratschek: „Er war too much für euch, Leute. Zum Tod des Dichters Rolf Dieter … Continue reading Ich würde das aber ganz anders formulieren. Ich würde nicht sagen: „Er war too much für Euch, Leute“, sondern ich glaube, die Umgebung, die Leute, die Umwelt waren „too much“ für ihn selbst. Denn er war ja so sensibel, er hat sich wirklich meiner Mei­nung nach an seinem Umfeld aufgerieben. Er fühlte sich manchmal persönlich angesprochen von der Verunstaltung der Natur hier in Austin mit den ganzen riesigen Werbeschildern.

Er sah so viel, an dem wir tagtäglich vorbei gehen, indem wir es ignorieren. Er konnte es einfach nicht ignorieren, er musste es verarbeiten, und das hat ihn wirklich fertig gemacht. Deswegen war er auch so böse auf alle möglichen Sachen, weil die Sachen auf ihn eingestürmt sind; er konnte sie einfach nicht abschieben, so wie das normale Menschen machen. Ich finde wirklich, dass sein ganzes Umfeld zu viel für ihn war. Er wurde wahrscheinlich 200 Jahre zu spät geboren. Obwohl er sich mit der Pop-Literatur beschäf­tigt hat, hätte er wahrscheinlich ganz andere Gedichte geschrieben, wäre er 200 Jahre früher auf die Welt gekommen. Das sehen wir an vielen Gedichten; sie enthalten so viele friedliche und schöne, ruhige alltägliche Momente und Bilder, die wirklich wunderschön sind.

Vielleicht kommen wir in unserer letzten Frage noch einmal zurück auf die Umwelt, von der Sie sagen, sie habe Brinkmann kaputt gemacht. Seine Briefe an Sie enthalten so viele Kommentare zu Köln, dass sie vielleicht auch „Köln, Blicke“ heißen könnten. Ihn hat dieser, wie er in seinem ersten Brief schreibt, in Köln herrschende „gegenwärtige starre Verrott“ sehr gestört und aufgerieben. Welches Bild von Köln haben Sie denn aus diesen Briefen bekommen? Hätten Sie nach der Lektüre dieser Briefe überhaupt noch Lust, nach Köln zu kommen und sich das hier einmal anzuschauen?

Ich kenne Köln. Ich habe nie in Köln gelebt, aber ich habe Freunde in Köln. Ich war, bevor ich nach Brinkmanns Tod nach Köln gereist bin, um Maleen zu besuchen, schon einmal für drei, vier Wochen dort gewesen. Doch bin ich nicht so sensibel wie Brinkmann. Köln hat nicht diesen Eindruck auf mich gemacht wie auf Brinkmann. Ich würde an vielen Sachen, die Brinkmann sah, vorbei laufen und sie gar nicht sehen. Und sie würden mich wahrscheinlich gar nicht so stören.

(Gespräch aufgezeichnet am 11. April 2002)

***

Zwei Stunden nach dem Telefon-Interview mit Dr. Hartmut Schnell erreichte das Literaturhaus Köln folgende E-Mail:

Lieber Herr Böhm, lieber Herr Di Bella,
ich hoffe, das Gespräch ist zu Ihrer Zufriedenheit ausgefallen, mir hat es jedenfalls Spaß gemacht. Ein Thema wurde jedoch nicht angesprochen: was für ein Freund war Brinkmann? Ich möchte hierzu nur sagen, dass er kein besserer Freund hätte sein können. Was mich jedes Mal über­rascht hat ist, dass er immer Zeit für mich hatte, auch wenn ich ihn völlig unangemeldet besuch­te. Er hat ja permanent geschrieben, aber wenn ich zu ihm in die Wohnung kam, hat er gesagt: „lass mich eben diesen Gedanken/Satz zu Ende führen“, und es hat keine zwei Minuten gedauert und er war bereit, ein Bier zu trinken oder sonst etwas zu unternehmen. Er hat nie den großen Dichter gespielt, der wichtigere Sachen zu tun hat, als sich mit mir oder anderen Studenten abzugeben. Ich finde, es ist wichtig, auch diese Seite Brinkmanns vorzustellen.
Herzliche Grüße,
Ihr Hartmut Schnell

Von Rolf Dieter Brinkmann kommentierter und “überarbeiteter” Schmutztitel (d.h. erste Innenseite) seines Gedichtbandes Gras (1970). Foto: Hartmut Schnell

 

WEITERE INFORMATIONEN

Textgrundlage
Briefe an Hartmut. 1974–1975. Hrsg. von Maleen Brinkmann. Mit einer fiktiven Antwort von Hartmut Schnell. Reinbek: Rowohlt 1999.

Besprechungen und Analysen des Briefwechsels (in Auswahl)
Ulf Geyersbach: „Brinkmann regained. Rolf Dieter Brinkmanns Briefe an Hartmut“. In: literaturkritik.de (6. Juni 1999).

Ursula März: „Köln, Rom, Austin. Die Briefe an Hartmut zeigen Rolf Dieter Brinkmann in den Niederungen seines Hasses und auf der Höhe seines Könnens“. In: Die Zeit (7/1999).

Martin Grzimek: Besprechung des Briefwechsels für den Deutschlandfunk/Büchermarkt (4. April 1999).

Martin Kagel: „Der amerikanische Freund. Rolf Dieter Brinkmanns Briefe an Hartmut Schnell“. In: Rolf Dieter Brinkmann: Blicke ostwärts – westwärts. Hrsg. von Martin Kagel und Gudrun Schulz. Vechta: Eiswasser 2001, S. 60–75.

Norbert Wehr: “Brinkmanns Testament. Rolf-Dieter Brinkmanns Briefe an Hartmut“. In: Schreibheft (2000?) → zum Beitrag

Hartmut Schnell übersetzt Rolf Dieter Brinkmann (Lyrik)
Translated poems of Rolf Dieter Brinkmann. Austin, Tex., Univ., Thesis, 1975 (III, 101 Bl.).
Zahlreiche Übersetzungen in den Literaturzeitschriften Dimension (1975, 1981) and New letters (1977-1983)

Anmerkungen[+]

Über Roberto Di Bella

Dr. Roberto Di Bella: Literaturwissenschaftler & Kulturvermittler
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