Brinkmanns Orte: Essen/Ruhr

Was nicht unbekannt ist, aber meist nur beiläufig erwähnt wird: Rolf-Dieter Brinkmann machte zwischen 1959 und 1962 in Essen eine Buchhändlerlehre. Für die Reihe “Brinkmanns Orte” begab sich NORBERT WEHR, Publizist und Herausgeber der Literaturzeitschrift Schreibheft, auf Spurensuche in der Ruhrmetropole.

Brinkmann lebte zunächst in einem Lehrlingswohnheim im Essener Norden, bewohnte schließlich eine Mansardenwohnung in der Schinkelstraße. Die genauere Erforschung dieser Phase im Leben Brinkmanns lohnt nicht zuletzt wegen der damals entstandenen Gedichte, die in Teilen 2010 in dem Band vorstellung meiner hände im Rowohlt-Verlag erschienen. Es war eine Zeit voller neuer Leseeindrücke und großer Produktivität, und, aufgrund der ungeliebten Arbeit in der Buchhandlung, zugleich weiterer Nährboden für Brinkmanns „antizivilisatorischen Furor, für seine Rigorosität, seine unerbittliche Radikalität. Man könnte sagen: Diese Jahre waren seine literarische Inkubationszeit“. So bringt es Norbert Wehr auf den Punkt.

Selbst aufgewachsen in Essen und der Stadt weiterhin verbunden, begab er sich dort auf Spurensuche. Der folgende Text ist die von ihm leicht überarbeitete – und von mir mit einigen Anmerkungen versehene – Fassung einer Einführung zu einer Lesung aus vorstellung meiner hände.1Eine 2011 in Essen ursprünglich mit Maleen Brinkmann geplante Lesung fiel aus, da diese kurzfristig ihre Teilnahme absagte.

 Roberto Di Bella

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gewiss gewiss: die Vögel die aufsteigen aus meinen

Schläfen sind Selbstgespräche flüchtig erdacht
die Traumtopographie im Wald der Augen…
Rolf Dieter Brinkmann: „Aus meiner Mansarde. 1961“2In: vorstellung meiner hände. Reinbek: Rowohlt 2010, S. 18. Zu Brinkmanns früher Werkphase siehe ausführlich bei Oliver Kobold: „Lange … Continue reading

Wer war Rolf-Dieter Brinkmann? – Für seine Bewunderer, Heiner Müller zum Beispiel, war er das „vielleicht einzige Genie in der westdeutschen Literatur“; mit seinem Gedichtband Westwärts 1 & 2 der Autor eines „exemplarischen literarischen Dokuments der zweiten Jahrhunderthälfte“, ein Sprecher seiner Generation, so der Literaturkritiker Heinrich Vormweg.

Brinkmann selbst hat kurz vor seinem Unfall-Tod im April 1975 in einem Brief an seinen Freund Hartmut Schnell in Amerika seine Vita skizziert: Lakonisch, telegrammstilartig, erzählt er darin – in der dritten Person – von seiner Herkunft, seiner Ausbildung, seinen Einflüssen, seinen Reisen, seinen Veröffentlichungen: „geb. 1940, 16. April in Vechta / Nordwestdeutschland“, so setzt der Rückblick ein (es folgen Passagen über Vechta, die ich weglasse).

 […] kathl. getauft, Besuch einer kathol. Volksschule von 1945–1950 (übelste Erlebnisse auf der Volksschule, Lernen als Prügel usw. Schulspeise/Nachmittagsunterricht, überalterte Klassenräume/der Streß der westdeutschen Nachkriegszeit)

von 1950–1958: Gymnasium, ohne Abschluß (sogen. „humanistische Fächer“, Latein, Griechisch, Englisch – kam nie mit dem Altgriechisch und der Chemie klar,)

Eltern: Vater gelernter Buchdrucker, später nach dem Krieg: Angestellter beim Finanzamt/Mutter: gelernte Köchin, (vor dem Krieg: leitete Küche auf einem westfälischen Gut „Schloß Schwarzenraben“, – kehrte oft nach dem Krieg in ihren Erzählungen und Unterhaltungen dahin in Gedanken zurück –, dann Überwechslung als Köchin zum Flugplatz Vechta) nach dem Krieg: Hausfrau…3Rolf Dieter Brinkmann: Briefe an Hartmut. Reinbek: Rowohlt 1999, S. 112.

Ich überspringe ebenfalls, was er über die Großeltern schreibt. Dann heißt es weiter:

1957: Tod der Mutter/1958, Frühjahr: von der Schule abgegangen/kurze Zeit: Versuch als Verwaltungsangestellter in Oldenburg i. O. ab Herbst 1958 bis Ende Frühjahr 1959: unruhige Zeit, hin und her zuerst Versuche: eine andere Schule zu besuchen, wohnte in einem Emslanddorf von 600 Einw./danach verschiedene Gelegenheitsjobs, sehr kurz: bei der Bahn als Arbeiter, Schwellenverlegen, in einem Landwirtschaftsbetrieb, Feldarbeit usw. erste größere Reise Frühjahr 1958: per Autostop nach Paris, Weltausstellung in Brüssel (alles fast ohne Geld, am Straßenrand geschlafen usw.). […] 1964: Heirat mit Maleen Kramer, Geburt des einzigen Kindes Robert (1.11.64).4a.a.O., S. 113.

Es folgen weitere Stationen, bis Januar 1975, kurz vor seinem Tod. Kein Wort jedoch über die Jahre 1959 bis 1964, kein Wort insbesondere über die Jahre in Essen bis 1962. Für das Jahr 1972 erwähnt er in seiner Vita nur: „Reisen durch Norddeutschland, Husum, Hamburg, Vechta, Essen/Ruhr“.5a.a.O., S. 115.

„Zweieinhalb Jahre Bücherpacken
in einem lichtlosen Keller.
Gar nicht so übel. Viel gelesen“

Soweit mir bekannt ist, gibt es nur zwei Gelegenheiten, bei denen er explizit auf seine Zeit in Essen zu sprechen kommt. Die eine – eine mündliche Äußerung – stammt aus der Sendung Die Wörter sind böse, die er 1973 für den WDR produzierte. Dort heißt es:

Von 1959 bis 1962 Buchhändlerlehre in Essen. Heimleben, kein Geld, geliehene Schuhe, um auszugehen. Ausgewiesen aus dem Heim für Lehrlinge, in dem es jeden Samstagabend Kakao, Dosenfisch, Weißbrot, kalten Salat und Tischordnungen gab. 10.00 Uhr Licht aus. Lehre eines kaufmännischen Gehilfen mühsam beendet nach zweieinhalb Jahren. Bücherpacken in einem lichtlosen Keller. Gar nicht so übel. Viel gelesen, zweieinhalb Jahre lang. Unterhaltungen mit Putzfrauen, Botengänge durch die Stadt Essen… 6Rolf Dieter Brinkmann: Die Wörter sind böse. Kölner Autorenalltag 1973. Eine subjektive Dokumentation von Rolf Dieter Brinkmann. O-Ton-Collage … Continue reading

Die andere Äußerung steht – prominent – am Ende seines großen, posthum erschienenen Buchs Rom, Blicke, das Briefe und Postkarten hauptsächlich an seine Frau Maleen enthält:

[…] das Tier steht ja unter der andauernden Anspannung der Nahrungsbeschaffung. / (Auch da mein Erschrecken, als ich es begriff, lange vorher, in Essen, Ruhr, eines Morgens, als ich schnell durch den Krupp-Park am Saalbau zur Berufsschule ging und einen Vogel in das Gras hacken sah: der Wahnsinn der Nahrungsbeschaffung, der Zwang, der in jedem Hacken, Picken, Hüpfer, Kopfwendung war – kein Entrinnen daraus,: und das Erschrecken hat sich auch mit Grauen gemischt)/ Immer wieder haben Menschen mich zu zerstören versucht durch ihre wahnwitzige Verwertungssucht, bis in die Träume und Gedanken wollten sie dringen, und haben mich nervös gemacht, aufgeschreckt, nicht in Ruhe gelassen.7Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke. Reinbek: Rowohlt 1979, S. 448f.

Alles, was sonst über diese Zeit bekannt ist, und es ist nicht besonders viel, wissen wir aus Erinnerungen seines damaligen Freundes Ralf-Rainer Rygulla, außerdem aus einigen wenigen Notizen von Josef Breuer, dem ehemaligen Leiter des Ludwig-Wolker-Heims in der Elisenstraße 64.

Das ehemalige Lehrlingswohnheim in der Essener Elisenstraße // Fotos: Norbert Wehr8Das Ludwig-Wolker-Heim ist unter dem heutigen Namen Die Boje (Berufliche Orientierung junger Erwachsener) weiterhin eine Einrichtung der katholischen … Continue reading

Rygulla also: Er und Brinkmann absolvierten die Buchhändler-Lehre gemeinsam. Sie schrieben gemeinsam, übersetzten gemeinsam aus dem Amerikanischen, und gaben später gemeinsam Acid heraus, jene legendäre Anthologie amerikanischer Beat-Literatur.9Acid. Neue amerikanische Szene. Hrsg. von Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla, Gesamtgestaltung mit Jörg Schröder. Nachwort von R. D. … Continue reading Rygulla kam, wie Brinkmann, aus einer katholischen Kleinstadt.10Anm. R. Di Bella: Ralf-Rainer Rygulla wurde 1943 in Kattowitz, Oberschlesien geboren. Und wie Brinkmann wollte er deren kleinkariertem Mief entfliehen. In Essen kamen beide vom Regen in die Traufe, denn sie landeten ausgerechnet in einer katholischen Buchhandlung. Ralf-Rainer Rygulla erinnert sich an diese frühe Zeit,

1960–1962, die in der Erinnerung schwarz/weiß ist, wie die Filme von Cassavetes, Antonioni, der Nouvelle Vague, Buchhändlerlehrlinge, dunkle Stoffhosen, weiße Oberhemden, in einer tiefschwarzen Gebetbuchklitsche, „Münsterbuchhandlung“ in Essen, Ruhrgebiet, Kohle, schwarze Halden mit scharfen Silhouetten gegen den wolkenlosen Himmel der schwarz/weißen Adenauerrepublik.
     Wir wohnten im Ludwig-Wolker-Lehrlingswohnheim. Der Fußweg zur Buchhandlung, zu dem gehaßten Ausbeuterbetrieb, der nur Lehrlinge für 180 Mark im Monat beschäftigte, führte durch rußige Ruinen an den kilometerlangen Mauern der Fabrikgelände vorbei. Im Laufen bissen wir in die ausgetrockneten, gebogenen, von 100 Heimbewohnern ausgemusterten Stullen. Die anderen waren fast alle „bei Krupp“ und mußten schon um sechs Uhr raus.11Ralf-Rainer Rygulla: „‚Frank Xerox’ wüster Traum‘ und andere Kollaborationen“. Rowohlt Literaturmagazin 36: Rolf Dieter Brinkmann. Hrsg. … Continue reading

Josef Breuer, ehemaliger Leiter dieses Heims, erinnert sich übrigens an einen „unruhigen, kritischen Zeitgenossen“12Joseph Breuer in einem Brief an Norbert Wehr., der Kurzgeschichten für die Adventsfeier des Heims schrieb. Unvergessen für Breuer auch die Mitwirkung Brinkmanns bei Heim-Laienspielen, z.B. im Stück Liebe über Kreuz – wovon u.a. auch zwei Photos zeugen, die Brinkmann in der Verkleidung eines Narren zeigen.13Siehe hierzu Norbert Wehr: „Essen, Blicke oder: Der Dichter als Narr. Drei unbekannte Photos von Rolf Dieter Brinkmann“. In: Schreibheft 84 … Continue reading

Der Dichter als Narr

Schwer möglich, sich Brinkmann nicht nur in Narrenkluft, sondern auch als Lehrling ausgerechnet in Essens Münsterbuchhandlung vorzustellen, einer Buchhandlung, in der zu 50% Liturgica, also Weihwasserbecken, Ikonen, Rosenkränze und vor allem Gebetbücher verkauft wurden. Im ersten Lehrjahr saß Brinkmann hier im Packkeller, mußte Gebetbücher verpacken und zur Post bringen. Später war er dann für die kleine belletristische Abteilung zuständig.

Ganz anders, ganz unkatholisch, waren dagegen die privaten Lektüren. Gottfried Benn, Hans Henny Jahnn, Louis Ferdinand Céline und Alain Robbe-Grillet waren die wichtigsten Autoren. Besonders Célines aggressiver Nihilismus und Individualismus, die wilde und vulgäre Sprache seiner Bücher hatte auf beide eine befreiende Wirkung. Das Célineske wurde ein Maßstab, ein Maßstab auch zur Beurteilung anderer Autoren. Als Céline 1961 starb, trugen Brinkmann und  Rygulla schwarze Armbinden.

Rolf Dieter Brinkmann in einem Laienspiel, Essen (um 1960)

R. D. Brinkmann in einer Laienaufführung des Theaterstücks: “Liebe über Kreuz” (September 1959, im Ludwig Wolker-Wohnheim/Essen). Foto: Herbert Resch.

In Rygullas Erinnerung ist die Essener Zeit, das Brot der ersten Jahre, allerdings nicht nur ein Schwarz-Weiß-Gemälde. Denn es gab eine kleine existentialistische Essener Boheme, es gab die Essener Jazztage, Konzertbesuche in der Grugahalle, Thelonious Monk, Gerry Mulligan, eine Jazzkneipe auf der Rüttenscheider Straße; es gab den Filmklub, damals im Haus der Technik; es gab die gemeinsamen Lektüren und „Schreib-Kollaborationen“.14Hierbei handelt es sich um Texte, die bis Ende der 1960er Jahre in gemeinsamer Arbeit entstanden. Beispiele wurden veröffentlicht im Rowohlt … Continue reading Im Jugendzentrum an der Papestraße organisierte Nicolas Born literarische Lesungen. Und Rygulla erinnert sich auch an exzentrische Vergnügungen, zum Beispiel an Bücherzerstörungen:

Ich erinnere mich an billigsten Rotwein, die Flasche zu einer Mark, die dann gleich zu einer Art fröhlichem Exzess führen konnte. Im Rausch einer Flasche haben wir eines Nachts in Brinkmanns Dachbude, eine kleine private Bücherzerstörung durchgeführt. Bücher, die wir nicht mochten, hassenswert fanden, wurden zerrisssen, bespuckt, angezündelt. Ein Roman von E.E. Cummings war dabei, ein Gedichtband von Gertrud von Le Fort auch.15Gunter Geduldig, Marco Sagurna (Hgg.): too much. Das lange Leben des Rolf Dieter Brinkmann. Aachen: Alano-Verlag 1994 (Neuauflage Vechta: … Continue reading

Kein Zweifel: Für Brinkmann waren die zweieinhalb Jahre in Essen eine Zeit extensiver Lektüre und extensiven Schreibens, und, dank der gehaßten Arbeit, weiterer Nährboden für seinen antizivilisatorischen Furor, für seine Rigorosität, seine unerbittliche Radikalität.

Literarische Inkubationszeit

Man könnte sagen: Diese Jahre waren seine literarische Inkubationszeit. Er schrieb Gedichte und Erzählungen, etwa „In der Grube“ (1962), publizierte Gedichte in der Zeitschrift Essener Jugend16Essener Jugend (Jugendamt der Stadt Essen), 1958–1973., stellte einen Gedichtband zusammen, der in der windschaukel heißen sollte, schrieb Briefe u.a. an Hans Henny Jahnn, nahm Kontakt auf zu Hans Paeschke, dem Herausgeber des Merkur, und intensivierte seinen schon seit 1957 bestehenden Kontakt zu Hans Bender, mit Walter Höllerer Mitbegründer und Herausgeber der Literaturzeitschrift Akzente.17Anm. R. Di Bella: Der Großteil der Korrespondenz Brinkmanns bleibt weiterhin verstreut und unveröffentlicht. Die Originale vieler Briefe (sowie … Continue reading

„Sehr geehrter Herr Jahnn“, schreibt der Neunzehnjährige am 2./3. Juli 1959 aus dem Ludwig-Wolker-Heim, „da sitzt nun ein junger Mann – drei Generationen jünger als Sie – eines späten Abends allein in seinem Zimmer und schreibt Ihnen – versucht Ihnen einen Brief zu schreiben“. Und weiter heißt es:

Ich habe vor kurzem Ihren letzten Roman Die Nacht aus Blei gelesen. Zu sagen wie stark mich dieses Werk getroffen hat dürfte sich erübrigen. Warum schreibe ich Ihnen…? Ich kann es nicht sagen…
     Vielleicht ist es nur, um mich von dieser Kälte zu befreien, die mich aus Ihren Zeilen anfiel, vielleicht ist es meinerseits nur ein Sichwehren gegen diese Welt, die überschattet wird – zunehmend – von dieser grenzenlosen Nacht!?
     Aber damit ist schon meine Polemik erschöpft. Ich stehe am Beginn, noch zögere ich, in jene Bereiche einzudringen, wo das Leben unter dem Zwang des Schöpferischen verläuft, aber schon ist da jener fremde Atem, der mich streift. Ich fühle, wie mich etwas ergriffen hat … was ist das? Da ist ein Bild, für wenige Augenblicke sichtbar im Spiegel des Tages, dann abgesunken ins Vergessen, um dann in einer anderen Stunde, nachts – wenn man allein mit sich ist, wenn man jenen anderen, fremden Stimme lauscht, wieder zu erstehen…18Rolf Dieter Brinkmann: „Brief an Hans Henny Jahnn; 2./3. Juli 1959“. In: Rowohlt Literaturmagazin 35: Hans Henny Jahnn. Reinbek: Rowohlt 1995, … Continue reading

Während er in diesem Brief lediglich seiner Unruhe, seiner Suche Ausdruck verleiht, formuliert er wenig später, gerade nach Köln umgezogen, in einem Brief an Hans Bender schon so etwas wie ein poetologisches Programm: Worum es mir in meinen Gedichten geht“, schreibt er, und er meint die Gedichte aus der Essener Zeit:

worum es mir in meinen Gedichten geht ist nicht, die gängigen Formen und bekannten poetischen Landschaften um ein paar Zeilen zu vermehren, sondern vielmehr geht es mir darum, die Fluchtwege aus dem, was ist, wieder zu sperren und das Gedicht offen zu machen für die menschlichen Belange, wieder versuchen zu sagen, daß man leidet an den Dingen und daß man traurig ist und daß ein Text keinen Kuhhandel treibt zu Gunsten einer zurechtfrisierten Schönheit …

So viel, in Kürze, was es nach meinen Recherchen über die Essener Jahre zu erzählen gibt… 1962 ging Rolf-Dieter Brinkmann nach Köln, lernte hier bald darauf seine spätere Frau Maleen kennen, veröffentlichte in den folgenden Jahren zehn Gedichtbände, zwei Erzählungsbände, den Roman Keiner weiß mehr und gab (mit Rolf-Eckart John) die Literaturzeitschrift Der fröhliche Tarzan heraus. Nach seinem 1970 erschienenen Gedichtband Gras zog er sich – desillusioniert, verzweifelt und voller Haß – aus dem literarischen Betrieb zurück. Und schrieb dennoch – manisch – weiter! Erst nach seinem Tod sind die zahlreichen Bücher erschienen, die in diesen fünf Jahren entstanden. Und es sind noch längst nicht alle Texte bekannt.

Der wichtigste Gedichtband ist ohne Zweifel Westwärts 1 & 2. Ihn hat er noch kurz vor seinem Tod für eine Veröffentlichung fertiggestellt. Er enthält Gedichte, die dem nahekamen, was Brinkmann vorschwebte: Gedichte sollten Energiefelder sein, in einer unzensierten, nicht-metaphorischen, den Dingen verhafteten, konkreten sinnlichen Sprache geschrieben; Momentaufnahmen, Schnappschüsse, die sich jedem Material und jeder Erfahrung öffnen. Kurz vor der Veröffentlichung dieser Gedichte kam Rolf-Dieter Brinkmann, nur 35-jährig, bei einem Verkehrsunfall in London ums Leben. Kurz danach setzte bereits die Legendenbildung ein.

Einen der schönsten Nachrufe hat ihm Nicolas Born geschrieben. Born, 1937 in Duisburg geboren, hatte 1950 bis 1965 ebenfalls in Essen gelebt, war hier zur Schule gegangen und u.a. als Chemigraph in der Essener Druckerei Girardet beschäftigt. „Ich wollte“, schreibt Born 1975,

einen Nachruf schreiben, und da war mir eine fixe Formulierung schon voraus: ein ‚unversöhnlicher Freund‘. Nein, denn seine Unversöhnlichkeit gegenüber fast allen Tatsachen und Bedingungen des Lebens war so entschieden, daß sie Freundschaft beinahe ausschloß. Beinahe. Manchmal in einem Gespräch (da hieß es aufpassen) oder auf einem hektischen Spaziergang in Köln oder Berlin wurde er ganz weich und zärtlich, die Stimme, die Wörter, die Bewegungen, ein Zustand, der ihn sofort wehrlos machte. Man konnte dann wissen, daß er eine Liebe in sich hatte, die sonst zugedeckt war von seinem Ungenügen an Dingen und Menschen. Verlaß war nur auf sein widersprüchliches Verhalten, zum Beispiel tobsüchtiges Sprechen, und gleichzeitig der Anspruch auf Klarheit und Genauigkeit […].19Nicolas Born: „Stilleben einer Horrorwelt. Gegen die Wortidyllen: R.D.B.“. In: National-Zeitung Basel (17. Mai 1975). Über Leben und Werk des … Continue reading

Autor: Norbert Wehr


Anmerkungen[+]

Über Roberto Di Bella

Dr. Roberto Di Bella: Literaturwissenschaftler & Kulturvermittler
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