Ralf-Rainer Rygulla zu „Keiner weiß mehr“

Vorbemerkung (Roberto Di Bella) ■ Ende der 1960er Jahre arbeitet Rolf Dieter Brinkmann an seinem ersten und einzigen Roman „Keiner weiß mehr“. Hieran nimmt sein langjähriger Freund und literarischer Mitstreiter Ralf-Rainer Rygulla (*1943) nicht nur in gemeinsamen Gesprächen und Briefen Anteil. Für die soeben erschienene englische Übersetzung des damaligen Skandalbuches erinnert sich Rygulla an die komplexe Entstehungsgeschichte des Bestsellers. Die deutsche Originalfassung seines Vorwortes ist nun exklusiv auf diesem Blog zu lesen.

Ralf-Rainer Rygulla (Foto: privat)

Darin nimmt uns Rygulla zugleich mit in die Zeit Ende der 1960er Jahre, als er und Rolf Dieter Brinkmann die „neueste amerikanische Szene“ nach Deutschland holen, um „das Gesamtbild einer einheitlichen Sensibilität“ zu zeichnen, „die sowohl den Trivial-bereich wie den hochkulturellen Bereich einschließt und für die Begriffe wie Pop oder Sub-Kultur nicht ausreichen“, wie es 1969 in der gemeinsam verfassten Nachbemerkung zu ACID heißt.

Als sich Rolf Dieter Brinkmann Autor 1967 daran macht, unter dem Eindruck der jüngsten künstlerisch-literarischen Strömungen in den USA (und Großbritannien), die erste Fassung des Romans grundlegend zu überarbeiten, ist der im Jahr zuvor aus London zurückgekehrte Rygulla untermittelbar hieran beteiligt. In einer Art kollaborativem Schreibprozess, wie ihn die beiden in jener Zeit des intensiven Austausches auch bei anderen Schreib- und Übersetzungsprojekten praktizieren, entsteht so die endgültige Version des Romans.

Keiner weiß mehr, 1968 veröffentlicht in Brinkmanns damaligen Hausverlag Kiepenheuer & Witsch, wird zum Bestseller, nicht zuletzt dank eines geschickten Marketings. „Brinkmanns Buch schockiert“, verkündet bereits der damalige Klappentext. Der Roman erreicht allein bis zum Tod des Autors 1975 eine Auflage von über 30.000 Exemplaren und wird damit zu seinem größten kommerziellen Erfolg zu Lebzeiten. Moloko plus, das kleine feine Label für avancierte deutschsprachige wie internationale Musik und Literatur, veröffentlicht nach 55 Jahren nun erstmals eine englische Ausgabe von Keiner weiß mehr, in der Übersetzung durch den amerikanischen Schriftsteller Mark Kanak.

Rolf Dieter Brinkmann: No One Knows More. Ins Englische übersetzt von Mark Kanak. Vorwort von Ralf-Rainer Rygulla, Nachwort von Mark Kanak. Mit Originalfotografien von Ulrike Pfeiffer | Moloko Print 159 | 2023 | www.molokoplusrecords.de

Die deutsche Taschenbuchausgabe ist weiterhin lieferbar: Rolf Dieter Brinkmann: Keiner weiß mehr. Roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2005.  → zur Verlagsseite mit Leseprobe

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Ich danke Ralf-Rainer Rygulla sowie Ralf Friel (Moloko plus) für die Genehmigung zur Publikation des folgenden Textes. Die Abbildungen und Fußnoten wurden von mir für diese Blogfassung ergänzt.

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Ralf-Rainer Rygulla
Erinnerungen an die Entstehung des Romans Keiner weiß mehr

 

Ralf-Rainer Rygulla und Rolf Dieter Brinkmann, 1968 vor Brinkmanns Kölner Wohnhaus in der Engelbertstraße 65. Foto aus dem Privatbesitz von Ralf-Rainer Rygulla.

Rolf Dieter Brinkmann hatte 1967 zwei Bände mit Erzählungen und vier Gedichtbücher veröffentlicht. Sie wurden mit großem Wohlwollen von der Kritik aufgenommen und ein leuchtendes Talent wurde dem 26-Jährigen bestätigt. Die vermeintliche Königsklasse, ein Roman, war nun die branchenübliche Forderung von Kritikern und Verlag.

Ich lernte ihn im April 1960 kennen.1Rolf-Dieter Brinkmann machte zwischen 1959 und 1962 in Essen eine Buchhändlerlehre in Essen, ebenso wie Ralf-Rainer Rygulla, der seine Ausbildung … Continue reading Wir kamen beide aus der Provinz. Ich war 16 Jahre alt, literaturbegeistert und – ungewöhnlich genug – Lyrikleser. Rolf Dieter war 20 und Dichter, ohne den geringsten Selbstzweifel ein Dichter, und diese Identität bestimmte seinen Alltag, forderte seine Freunde, Bekannte, und durchdrang jeden Aspekt, jeden Umstand seines Lebens. Es begann eine intensive und von Beginn an auch schonungslose Freundschaft.

19jährig, im Juni 1963, zog ich mit Erlaubnis des Kreiswehrersatzamtes nach London. Dort jobbte ich bei Foyles, der „größten Buchhandlung der Welt“, so die Eigenwerbung. Schräg gegenüber, auf der Charing Cross Road, befand sich Better Books, ein kleiner Buchladen, der eine Kooperation mit Lawrence Ferlinghettis City Lights Bookshop in San Francisco pflegte. Er wurde in den nächsten Jahren, neben Barry Miles‘ Indica Bookshop, zu einer Fundgrube für neue, bis dahin unbekannte literarische Töne und Formen.2Siehe Näheres zum Londoner Hintergrund im illustrierten Gastbeitrag von Andreas Kramer: „Brinkmanns Orte: London“ auf diesem Blog 

 

Poetry is made by all. Not by one.

 

Die Publikationen, Bücher, Drucksachen, hektographierte Hefte, getackerten Broschüren, die ‚little mags‘ aus den USA, verstießen bereits durch Form und Aufmachung gegen die herrschenden literarischen Konventionen in der westdeutschen Literatur der sechziger Jahre. Ron Padgett rief zu einem ‚New Plagiarism‘ auf. „Wenn dir ein Gedicht gefällt, dann verändere es, und schreib deinen Namen darunter“ (Ted Berrigan) und „Poetry is made by all. Not by one“ waren die neuen, gegen die herrschende literarische Hochkultur gerichteten Aufrufe und Slogans. Die Zentren dieses literarischen Undergrounds waren New York City an der Ostküste und San Francisco im Westen. Von Berkeley aus startete das Filthy Speech Movement, eine Offensive gegen die spezielle amerikanische Prüderie und im Osten provozierten Ed Sanders und Tuli Kupferberg mit ihrem Fuck You – A Magazine of the Arts.3Die von Ed Sanders (*1939), Beatnik-Poet, Sänger, Aktivist und Herausgeber, begründetete Zeitschrift existierte nun wenige Jahre, von 1962 bis … Continue reading

 

 

Selbstverständlich teilte ich diese Entdeckungen mit RDB. Er erkannte das Erneuerungspotenzial des US-amerikanischen Materials und drängte mich zurückzukommen, um es in Deutschland vorzustellen. In dieser Zeit arbeitete RDB an dem von ihm erwarteten Roman. Eine erste handschriftliche Fassung über vier Personen, einen ‚Er‘-Erzähler, seine namenlose Frau und zwei Freunde, lag bereits vor. Eine kaum getarnte Autobiographie, in der die Lebensumstände, Befindlichkeiten und Eigenarten der Protagonisten unverblümt denen der realen Personen entsprachen.41974 ordnet Brinkmann selbst in einem seiner Briefe an Hartmut Schnell das Buch folgendermaßen ein: „1968: Roman, ‚Keiner weiß mehr‘, … Continue reading

Das amerikanische Material, das ich bei meiner Rückkehr nach Deutschland mitgebracht hatte, und das er von Besuchen in London her zum Teil schon kannte, war jetzt in der Wohnung des Dichters, – sowie ich auch. Die ersten Monate wohnte ich in der Engelbertstraße 65, 4. Stock in Köln.5Sowohl Rolf Dieter Brinkmann wie auch Ralf-Rainer Rygulla haben ihr amerikanischen Material im Laufe der siebziger Jahre verkauft. Nach vielen … Continue reading

Die Diskrepanz zwischen seinem bisher von der Millimeterprosa des nouveau roman beherrschten Schreibstils und der leichten, offenen, tabulosen Erzählweise der amerikanischen Pop- und Underground-Literatur, wurde immer offensichtlicher, je genauer wir uns das Material aneigneten. Es entstand eine neue Version eines ‚non-fiktionalen‘ Romans.

Zur gleichen Zeit begannen wir mit der Übersetzung von Gedichten, Texten, mit der Planung von Readern, von Anthologien. Unausweichlich hatte diese parallele Arbeit Einfluss auf die neue, auf einer Reiseschreibmaschine getippte Version. In einem Interview berichtete Ehefrau Maleen Brinkmann: „Darüber hinaus haben Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla – quasi in einer Art Kollaboration – den Roman im Nachhinein noch mal überarbeitet und bewusst obszönisiert“.6Zitiert nach Olaf Selg: Essay, Erzählung, Roman und Hörspiel: Prosaformen bei Rolf Dieter       Brinkmann. Aachen: Shaker-Verlag 2001, S. 226. … Continue reading

 

Außerordentlich (und) obszön

 

In den folgenden drei Jahren 1966 bis 69 entstanden parallel zur Endfassung von Keiner weiß mehr drei Anthologien, zwei ausschließlich mit neuer amerikanischer Lyrik (Fuck you – Underground Poems, Silver Screen. Neue amerikanische Lyrik) und ein dickleibiger Reader ACID. Neue amerikanische Szene, in dem wir alle Facetten der neuen literarischen Bewegung zu dokumentieren versuchten, von Charles Bukowski / William S. Burroughs bis Andy Warhol / Frank Zappa.

Erstausgabe bei Kiepenheuer & Witsch (1968) Umschlaggestaltung: Hannes Jähn. Abgebildet sind (v.l.n.r.): Helmut Pieper, R. D. Brinkmann, Maleen Brinkmann, Hannes Jähn.

Keiner weiß mehr wurde zu einem Bestseller. Die monomanische Intensität, mit der Brinkmann die sexuellen Wünsche, Süchte und Manöver eines jungen Pädagogik-Studenten beschreibt, wurde in der Bundesrepublik der sechziger Jahre als skandalös empfunden. Keine Rezension kam ohne den Begriff ‚obszön‘ aus. Marcel Reich-Ranicki schrieb: „Wer sich in der Literatur der Wahrheit über das Leben des Individuums in unserer Epoche nähern will, kann auf das Obszöne nicht verzichten.“7Marcel Reich-Ranicki: „Außerordentlich (und) obszön. Rolf Dieter Brinkmanns Sex-Roman Keiner weiß mehr“. In: Die Zeit. Nr. 17/1968. Wieder … Continue reading Karl-Heinz Bohrer entdeckte die „überreizte Wahrnehmung sinnlicher Eindrücke, in denen obszöne und hässliche Ausblicke plötzlich schön werden“.8Karl-Heinz Bohrer: „Neue panische Welt. Rolf Dieter Brinkmanns erster Roman“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Beilage Bilder und Zeiten (4. … Continue reading

In meiner Erinnerung waren für Brinkmann – der in Keiner weiß mehr schamfreie, zu der Zeit hoch anstößige Begrifflichkeiten benutzte – liebevolle Betrachtungen eigentümlicher: „Es ist tatsächlich nicht einzusehen, warum nicht ein Gedanke die Attraktivität von Titten einer 19jährigen haben sollte, an die man gerne faßt“.9Rolf Dieter Brinkmann: „Der Film in Worten“ [Nachwort zu Acid (1969)]. In ders.: Der Film in Worten. Prosa. Erzählungen. Essays. Hörspiele. … Continue reading

Die Erstausgabe von Keiner weiß mehr durfte 1968 per gerichtlicher Verordnung nur mit einem sog. „Selbstverpflichtungsschein“ verkauft werden. 

Die große Aufmerksamkeit, die der Roman im deutschen Feuilleton auslöste, befeuerte unsere Vermittlung der amerikanischen literarischen Gegenkultur und umgekehrt. Nach einer 5 Jahre andauernden Phase, in der die Schlagworte Pop und Underground immer dominanter wurden und schließlich zu abgegriffenen Klischees degenerierten, verabschiedete sich Brinkmann aus dem immer lauter werdenden Gegenkultur-Betrieb. Er zog sich aus der literarischen Öffentlichkeit zurück. Erst fünf Jahre später, veröffentlichte er einen neuen – letzten – Gedichtband. Anlässlich seines Erscheinens wurde er zu einer Autorenlesung nach Cambridge eingeladen. Auf der Rückfahrt machte der 35 Jahre alte Dichter Station in London, wo er am 23. April 1975 auf dem Westbourne Grove, Bayswater, von einem Auto erfasst und durch die Luft geschleudert wurde.10Siehe zum Tod den Bericht des Schriftstellers und Lyrikers Jürgen Theobaldy: „Er fragte, ob das Brinkmann sei: Tod eines Dichters; ein … Continue reading

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ZUR PERSON
Ralf-Rainer Rygulla, geb. 1943 in Laurahütte, heute Siemianowice Śląskie, bei Kattowitz (Oberschlesien), aufgewachsen dortselbst sowie in Höxter/Weser, anschließend wohnhaft in Essen (1960-63), London (1963-66), Köln (ab 1966) und Frankfurt am Main (1969-2023). Ausbildung zum Buchhändler, Studium an der Pädagogischen Hochschule Köln, DJ, Diskothekenbetreiber, Musiker (Musikprojekt „Moltostuhl mit Heinz Peter Felber), Songtexter, Übersetzer und Lektor (u.a. 1969-71: März-Verlag; 1972: Rowohlt-Verlag), Mitherausgeber des Gummibaum – Hauszeitschrift für neue Dichtung (1969-1970) und literarischer Anthologien. Ab 1973 arbeitet er schwerpunktmäßig bis Anfang der 80er als Discjockey sowie anschließend bis in die 2000er als Geschäftsführer verschiedener Frankfurter Diskotheken. Zuletzt veröffentlicht er 2022 gemeinsam mit Marco Sagurna (→ zum Fragebogen) die umfangreiche Anthologie Der Osten leuchtet mit zeitgenössischer Lyrik aus 21 Ländern Ost- und Südost-Europas. Ralf-Rainer Rygulla lebt und arbeitet in Frankfurt/Main.

Anmerkungen[+]

Über Roberto Di Bella

Dr. Roberto Di Bella: Literaturwissenschaftler & Kulturvermittler
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