Ingeborg Middendorf

Vier Fragen zu Rolf Dieter Brinkmann

Ingeborg Middendorf // Foto: Foto Kirsch

1. Wie sind Sie auf Rolf Dieter Brinkmann aufmerksam geworden?
Ich bin zwei Jahre jünger als Rolf und wie er in Vechta aufgewachsen, Stadt der Schulen und Gefängnisse. Ich besuchte die Liebfrauenschule, das neusprachliche Mädchengymnasium – damals von Nonnen geleitet. Rolf war auf dem Antonianum, das Jungengymnasium mit Altgriechisch und Latein. Er war der Klassenkamerad meines ersten Freundes, Christian Beyer. Von ihm hörte ich über einen Rolf, der neu in die Klasse gekommen war und den Deutschunterricht aufmischte. Er sprach von Heine, von Benn – und dass er eine Rose auf deren Grab legen wolle. Dichter, die wir im Unterricht nicht besprachen. Im Geschichtsunterricht dann sprach er von Hitler, von der Judenverfolgung, von Schreckensbildern: Lampenschirme aus der Haut der Juden, Seifen aus ihren Knochen. Wobei „sprechen“ wohl nicht der richtige Ausdruck ist. Rolf wütete. Solche Töne waren ungewohnt in Vechta, wo der vergangene Krieg und die Verbrechen der Nazis kein Thema waren. Auch nicht im Unterricht.

Ich erinnere mich noch gut, wie ich Rolf zum ersten Mal sah. Er tappte die große Straße entlang, dunkel, auch dunkel gekleidet und strahlte eine Unmittelbarkeit aus, die mich anzog und vor der ich mich auch fürchtete. Ich habe damals nicht gewagt, ihn anzusprechen. Er hatte ein starkes Selbstbewusstsein, war ganz da im Augenblick. Da war jemand, der wusste, wer er war und was er wollte und der keine Kompromisse einging. Das war zu spüren, selbst wenn er nichts sagte.

Dann kam 1957 die Aufführung von Draußen vor der Tür, ein Stück von Wolfgang Borchert, gespielt im Metropol-Theater von der Rhetorika Vechtensis, dem Schülertheater der Gymnasien. Rolf spielte darin die Hauptrolle des Kriegsheimkehrers Beckmann. Von Christian hörte ich, dass Rolf sich nur noch mit dem Stück beschäftige, in der Klasse war er kaum anwesend, und dass seine Versetzung wieder gefährdet sei. Zur Aufführung waren die Oberklassen der Gymnasien eingeladen. Das Stück wurde mehrmals wiederholt und war Stadtgespräch. „Warum schweigt ihr denn? Warum? […] Gibt denn keiner, keiner Antwort???“, so lauten Beckmanns letzte Worte im Stück.1Wolfgang Borchert (1921-1947): Draußen vor der Tür. Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will. Zuerst erschienen 1947 im … Continue reading Es war die Frage unserer Generation. Ein so eindringliches Spiel habe ich nie wieder erlebt im Theater. Das war existentiell empfunden von Rolf. Nach der Aufführung verließ er das Gymnasium – und die Stadt.


2. Sind Brinkmanns Texte weiterhin aktuell?
Ich habe natürlich immer geschaut, ob ich etwas von Rolf Brinkmann in Literaturzeitungen finde. Ich habe zuerst ein Gedicht in der ZEIT gefunden und dann kamen die Erzählbände, 1965 und 1966. Die Erzählung „Der Arm“: der langsame Krebstod seiner Mutter. Wie er als Sohn daneben sitzt und nichts tun kann und sich die Vorgänge vorstellt, die da im Körper der Mutter stattfinden, direkt vor ihm. Auch „Raupenbahn“, und „Die Umarmung“ haben genau das Lebensgefühl von uns jungen Leuten damals in Vechta eingefangen.2Vgl. Rolf Dieter Brinkmann: Die Umarmung. Erzählungen. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1965 (darin „Der Arm“ und „Die Umarmung“) … Continue reading Aktuell sind seine Texte unbedingt. Die Sackgasse, in die der Konsum führt, die Vermüllung, äußerlich wie mental. Sehnsucht nach einem einfachen Leben, sinnlich und klar. Das Bewußtwerden und das intensive Wahrnehmen der Gegenwart: sehen, hören, fühlen, schmecken, riechen!

3. Was hätten Sie Brinkmann gerne noch persönlich gesagt?
Ich hätte ihm gesagt, wie wichtig er damals für mich war, mit seinem Aufbegehren in der Stummheit der Nachkriegszeit in Vechta und in Köln. Dass er mich ermutigt hat, vorgezeichnete Wege zu verlassen, mich nicht einschüchtern zu lassen und mich selbst ernst zu nehmen. Er hat eine Tür geöffnet.

4. Ergänzen Sie bitte folgenden Satz: Rolf Dieter Brinkmann ist…
hat die Literatur ins Leben gebracht und das Leben in die Literatur. Er hat sich nicht an starre Formen gehalten, weder in der Literatur noch im Leben.


Zur Person
Ingeborg Middendorf, geboren in Oldenburg, aufgewachsen in Vechta in einer Großkaufmannsfamilie. Studium der Germanistik, Philosophie und Theologie in Göttingen und Bonn. 1967 Abbruch und Wechsel an die Pädagogische Hochschule Köln, wo sie wie Rolf Dieter Brinkmann die Germanistik-Seminare von Theodor Brüggemann besuchte.3Siehe zu Brinkmann und der PH auch den Fragebogen von Renate Hupfeld Nach dem Staatsexamen Arbeit als Lehrerin in Neuss, Bremen und Berlin. Lebt seit 1972 in Berlin. Für ihr Schreiben wurde sie u.a. ausgezeichnet mit: Förderpreis des Landes Nordrhein Westfalen (1978), Arbeitsstipendien des Senators für kulturelle Angelegenheiten in Berlin (1982 und 1987), Studienaufenthalt der Deutschen Akademie Rom – Casa Baldi in Olevano Romano (1989).

Seit 1971 Veröffentlichungen von Lyrik und Kurzprosa in Zeitschriften (u.a. Twen, Gasolin, Kaktus) und Anthologien, so in der vielzitierten Gedichtsammlung Wir Kinder von Marx und CocaCola (1971).4Die Anthologie Wir Kinder von Marx und Coca-Cola: Gedichte der Nachgeborenen versammelte Texte von Autoren der  Jahrgänge 1945-1955 aus der … Continue reading Zu ihren wichtigsten Arbeiten zählen der Band mit erotischen Erzählungen Etwas zwischen ihm und mir (Maro Verlag 1985) und der Familienroman Die Mißachtung. Vom Süchtigsein und Nüchternwerden (Attempto Verlag 1995). Zuletzt erschienen sind in der dahlemer verlagsanstalt ihre Romane Der Schatten seines Lächelns und Das weiße Haus am See (beide 2020) sowie Gedichte aus sechs Jahrzehnten im Band Aber tot bin ich nicht (2024).

Mehr Informationen
● Autorinnen-Profil bei der dahlemer verlagsanstalt
● Ingeborg Middendorf: „Mehr als ein Rebell“. In: Gunter Geduldig / Marco Sagurna (Hgg.): too much. Das lange Leben des Rolf Dieter Brinkmann. Alano Verlag 1994; 2. Auflage Eiswasser Verlag 2000 S. 61-65.
● Ingeborg Middendorf im Interview mit Gregor Eisenhauer (2006) → zum Interview (PDF)
● Ambros Waibel: „Vom Leben genährt. Hausbesuch bei Ingeborg Middendorf“. In: taz (11. Februar 2025).


Gedichte aus sechs Jahrzehnten von Ingeborg Middendorf
Es spricht die Autorin. Musik und Realisation: Florian Goltz (2022)

 

Anmerkungen[+]

Über Roberto Di Bella

Dr. Roberto Di Bella: Literaturwissenschaftler & Kulturvermittler
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