Wolfgang Rüger

Vier Fragen zu Rolf Dieter Brinkmann

Wolfgang Rüger // Foto: privat

1. Wie sind Sie auf Rolf Dieter Brinkmann aufmerksam geworden?
Ich bin in einem winzigen Dorf im Hohenlohischen aufgewachsen. In der Pubertät habe ich mich durch die Schulbibliothek gelesen. Dort bin ich vermutlich, ich weiß es ehrlich gesagt nicht mehr genau, über eine Fußnote auf ACID gestoßen. Was ich über das Buch gelesen habe, hat mich jedenfalls elektrisiert. Viele Jahre war diese Anthologie, die damals nicht lieferbar war, das Objekt meiner Begierde, und es schien unmöglich, sie irgendwann zu besitzen. Es hat dann fast zehn Jahre gedauert, bis ich die schwarze MÄRZ-Erstausgabe das erste Mal in Händen hielt. Das war Mitte der Achtziger im Antiquariat Makol in Frankfurt. Die Ausgabe hat damals so um die 180 DM gekostet. Für mich unerschwinglich.

Wenige Jahre zuvor hatte ich während meines Studiums in Marburg angefangen, mich intensiv mit Brinkmann zu beschäftigen. Die Idee war, einen Materialband zu Brinkmann zu veröffentlichen. Damals gab es so gut wie keine Sekundärliteratur zu ihm. Ich habe dann alle wichtigen Weggefährten von Brinkmann besucht und interviewt (u.a. Dieter Wellershoff, Renate Matthaei, Jörg Schröder, Ralf-Rainer Rygulla, Hermann Peter Piwitt, Peter O. Chotjewitz, Ulf Miehe). Der Materialband ist nie erschienen, weil Maleen Brinkmann ihn mit allen Mitteln zu verhindern wusste. Diese jahrelange, aufwändige Recherche hat leider nur zu kürzeren Beiträgen in Anthologien und dem Sonderdruck in der Reihe Schröder erzählt geführt.1Jörg Schröder: Zum harten Kern. Über Rolf Dieter Brinkmann. Fuchstal-Leeder: März Desktop Verlag (August) 1992. (= Schröder erzählt. Erste … Continue reading

2. Welcher seiner Texte hat Ihnen am besten gefallen?
Die 1979 posthum erschienene Materialsammlung Rom, Blicke steht für mich monolithisch in der deutschen Literaturlandschaft. Keiner hat so zornig, unbestechlich, kompromißlos und unerbittlich gegen das „Scheißhaus Wirklichkeit“ gewütet, keiner hat sich mit solch unglaublicher Sensibilität den Reizen seiner Umwelt ausgesetzt wie Brinkmann. Der Band ist das Zeugnis seiner Suche nach einer neuen Literatur abseits des Mainstreams. Ein aufregendes Leseabenteuer bis heute.

3. Was hätten Sie Brinkmann gerne noch persönlich gesagt?
Ich hätte ihn gerne gefragt, ob er die Texte von Jürgen Ploog wahrgenommen und falls ja, was er von ihnen gehalten hat.

Fingierte Kommentare, u.a. von Rolf Dieter Brinkmann und Peter Handke, in der Literaturzeitschrift Gasolin 23 (Nr. 2), April 1973. Die zweite Ausgabe des Underground-Magazins war in Wirklichkeit die erste. Weitere Infos zur Zeitschrift hier. ■  Anklicken zum Vergrößern

4. Ergänzen Sie bitte folgenden Satz: Rolf Dieter Brinkmann…
… ist für mich neben Jürgen Ploog der intellektuelle Kopf des deutschen Undergrounds der sechziger und siebziger Jahre. Frappierend, daß diese fast gleichaltrigen Brüder im Geiste keinen persönlichen Austausch hatten. Beide haben ungefähr zur gleichen Zeit angefangen zu schreiben; beide waren stark von Burroughs und der Beat Generation inspiriert; beide haben ähnliche Zeitschriftenprojekte initiiert; beide waren Solitäre, die sich bewußt aus dem etablierten Literaturbetrieb ausgeklinkt haben; beide haben eine verwandte Poetologie verfolgt; für beide hat das Visuelle eine große Rolle gespielt; beide haben auf ihre Art die deutsche Literatur beeinflusst und weiterentwickelt. Meiner Meinung nach gab es eine Kölner und eine Frankfurter Linie des deutschen Undergrounds, beide verfolgten zur gleichen Zeit die gleichen Ziele, hatten aber praktisch so gut wie keine Berührungspunkte. Diese Parallelen näher zu untersuchen wäre ein spannendes Thema.


Zur Person
Wolfgang Rüger, geboren 1959 in Schwäbisch Hall. Studium der Germanistik, Kunstgeschichte, Film- und Fernsehwissenschaften. Seit 1980 Inhaber des Paria Verlags; 1980-1990 (Mit)Herausgeber diverser Zeitschriften; 1985-1994 Feuilletonredakteur und freier Literatur- und Filmkritiker. 1994-1999 diverse Jobs (Sekretär eines Bankdirektors, Türsteher, Nachtportier, Putzhilfe). Seit 1999 mit seinem Antiquariat in Frankfurt im unermüdlichen Einsatz für das gedruckte Buch. Seit 2025 ist er auch wieder journalistisch aktiv. Lebt in Frankfurt/Main.

Wolfgang Rüger ist Herausgeber verschiedener Anthologien zeitgenössischer Prosa und Lyrik, so u.a. Unterholzliteratur (Paria Verlag 1981), Station to Station: zweigleisiger Alltag (a.a.O., 1984) oder  gemeinsam mit Martin Pesch Frankfurt tanzt den Tango (Flugasche Verlag 1987). Ebenfalls bei Paria erschienen sind sein Essay BRINKMANN – Der Dichter im elektrischen Versuchslabyrinth der Städte (1990) sowie die Briefauswahl Jörg Fauser: Ich habe eine Mordswut: Briefe an die Eltern 1956-1987 (1993), die er mit der Mutter des früh verstorbenen Autors besorgt hat, der Schauspielerin Maria Fauser.

Auf besondere Weise verbunden ist Wolfgang Rüger auch dem Werk und der Person von Jürgen Ploog (1935-2020), der als Vaterfigur des deutschen Underground gilt → zum Fragebogen. Aus Anlass des 90. Geburtstags (und 5. Todestags) des Autors erschien 2025 der Reader Ploog, West End in der Edition W. Der gemeinsam mit Ploogs Sohn herausgegebene Band lässt Literaturwissenschaftler*innen und Zeitgenoss*innen zu Wort kommen. Hinzu kommen bislang unveröffentlichte Texte, Zeichnungen und Fotos aus dem Nachlass des Schriftstellers und Linienpiloten. Siehe zu Jürgen Ploog auch ein aktuelles Interview mit Wolfgang Rüger sowie seinen Essay „Über das Verschwinden“.

Mehr Informationen

wolfgangrueger.de


Hinter den Kulissen des Antiquariats Wolfgang Rüger (2010), Länge: 5:42
Eine Fotostory von Stephan Morgenstern

Anmerkungen[+]

Über Roberto Di Bella

Dr. Roberto Di Bella: Literaturwissenschaftler & Kulturvermittler
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