Der in Berlin lebende Schriftsteller und Lyriker Dieter M. Gräf wohnte bis 2006 in Köln. Hier führte ich mit ihm im April 2002 ein umfangreiches Interview über seine Texte und Themen, in welchem wir immer wieder auch auf Rolf Dieter Brinkmann und sein Werk zu sprechen kommen. Im Folgenden einige Auszüge aus unserem hier erstmals veröffentlichten Gespräch.
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Das vollständige Interview gibt es am Ende der Seite als PDF.
Siehe zur literarischen Brinkmann-Rezeption bei Dieter M. Gräf (und Norbert Hummelt) auch meinen aktuellen Aufsatz: „‚Die Hauptstraße, auch der Gedanken, ist aus 6spurigem Asphalt‘. Rolf Dieter Brinkmann: ein ‚role model‘ der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur?“. In: Yves Iehl, Nadia Lapchine und Françoise Lartillot (Hgg.): Les figures tutélaires dans la poésie et la prose de langue allemande aux 20e et 21e siècles. Entre filiations, rejet et création [Leitfiguren in der deutschsprachigen Prosa und Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts zwischen Filiation, Abwehr und Kreativität]. Bern u.a.: Peter Lang 2025. → weitere Infos zum Sammelband

Dieter M. Gräf // Foto: Privat
Um nochmals auf Rolf Dieter Brinkmann zu kommen: Wann ist Ihnen der Name eigentlich erstmals begegnet?
Ich darf ein wenig ausholen? Ich bot Mitte der achtziger Jahre Dieter Wagner, einem Berliner Buchkünstler, den ich noch nicht persönlich kannte, ein Manuskript an. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt nur in ein paar Zeitschriften veröffentlicht. Auf der Mainzer Minipressen-Messe sah ich einige von Wagners Künstlerbücher, für die er gerade den V. O. Stomps-Preis erhalten hatte. Ich war fasziniert von seiner Arbeit und schickte ihm einige Gedichte. Drei Tage später rief er mich an und sagte mir: ja, daraus wolle er etwas machen. Er sagte auch, meine Texte würden ihn sehr an Rolf Dieter Brinkmann erinnern, aber sie wären noch präziser.
Ich hatte mich mit Brinkmann zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich beschäftigt. Ich hatte Westwärts 1&2 zwar gelesen, aber nicht sehr gründlich. Wagner ging davon aus, dass ich mich ziemlich gut bei Brinkmann auskenne und sah mich in dieser Ecke. Für mich war das überraschend, ich selbst sah mich in ganz anderen ästhetischen Zusammenhängen. Heute finde ich, dass Wagners damalige Aussage viel Sinn macht. Damals war mir Brinkmann zwar von der Sprechhaltung her auch schon sympathisch, aber nicht geformt genug. In der Zeit grassierte die sogenannte „Neue Innerlichkeit“, die die Dichtung zwar vom hohen Ross holte, aber auch eine Geschwätzigkeit einbrachte, gegen die ich allergisch reagierte.
Rom, Blicke als Zuckungsbringer
Zuckungsbringer, so hieß eine 1990 von Ihnen herausgebrachte Anthologie zeitgenössischer Lyrik aus dem Rhein-Neckar-Gebiet. Würde dieser etwas kannibalisch klingende Titel auch auf Brinkmanns Texte zutreffen?
Der Titel impliziert ja, dass Texte auch körperlich etwas mit einem machen. Es gibt Schriftsteller, gegen die ich persönlich nichts habe, wie z. B. Jürgen Becker… doch wenn ich solche Texte lese, hat der Körper Sendepause. Im Falle Brinkmann ist das anders. Sein für mich interessantestes Buch ist deshalb Rom, Blicke.
Bei dessen Lektüre reagiere ich ganz anders, auch physisch, zwiespältiger, manchmal auch mit einer Aversion. So ist beispielsweise die Art und Weise, wie er sich über Frauen auslässt, sehr billig. Wie wenig er an sich arbeitet, wie er eben auch diese ‚onanistische’ Möglichkeit nutzt, um als Schriftsteller über alle herziehen zu können, diese Würstchenhaftigkeit seiner Haltung finde ich sehr enttäuschend.
Es gibt Passagen in Rom, Blicke, die von einer ständigen Fotzenterminologie bestimmt sind, in denen er alle Frauen schlecht macht. Außer seiner eigenen, Maleen, die aber den Vorzug hat, Tausende von Kilometern entfernt zu sein. Dabei sind seine Urteile im Einzelnen überhaupt nicht einleuchtend und meist willkürlich. Man erfährt nie wirklich, was gegen die Menschen vorliegt. Er missbraucht die Möglichkeiten, die man als Schriftsteller hat, um sich abzureagieren.
Gibt es einen ‚linken‘ und einen ‚rechten‘ Brinkmann?
Was stünde dieser kritischen Einschätzung auf der positiven Seite gegenüber?
Dass ich immer wieder fasziniert bin von der Kühnheit seines Schreibens. Brinkmann ist jemand, der von den APO-Erfahrungen her kommt, lebt und schreibt; er ist im Grunde eine APO-Figur. Andererseits gibt es bei ihm aber auch etwas, was ich das ‚nordische Element’ nennen würde. Wenn man es pointiert sagen möchte, könnte man behaupten, dass es einen ‚linken’ und einen ‚rechten’ Brinkmann gibt.
Den APO-Brinkmann, der ohne Studentenbewegung, ohne die literarisch-existentielle Erfahrung der beat generation gar nicht denkbar wäre und dann derjenige, der auf korrekter Kleidung besteht und doch im Grunde ein Jeanstyp ist und der polemisiert gegen alles, was mit linkem Zeitgeist zu tun hat. Diese Ambivalenz finde ich spannend.

Cover des Lyrikbandes Rauschstudie: Vater + Sohn (1994)
Viele haben die Tendenz, sich einer Meinungsschule anzuschließen, einem Meinungsbild anzupassen, das einen nach oben spült, um sich so das Leben leichter zu machen. Dies geschieht teilweise aus Opportunismus, teilweise aber auch weil man es gar nicht erkennt und reflektiert. Beides trifft auf Brinkmann nicht zu, er ist das genaue Gegenteil, er verweigert sich jeder Herdenbildung. In dieser Hinsicht ist er aufregend integer, weil er strikt seinen eigenen Weg sucht und die Figur des Einzelnen so betont, geradezu verherrlicht. Das, dieses Beharren auf dem Einzelnen, gefällt mir sehr.[…]
Rolf Dieter Brinkmann: eine Übergangsfigur
Ich wäre mit meinen Fragen am Ende. Ist aus Ihrer Sicht noch etwas offen?
Ich sage noch ein bisschen was zu Brinkmann, mit dem Sie sich so intensiv befasst haben und der womöglich eine Stifterfigur unseres Gespräches ist?
Gerne. – Sie haben ihn einmal eine ‚Übergangsfigur’ genannt. Was genau meinen Sie mit diesem Begriff?
Er ist in meinen Augen keiner der großen Dichter, aber dennoch ein wichtiger Autor. Kein Vollender, aber ein Anreger, einer, der uns etwas hinterlassen hat, das nicht zum Klatschen oder Anglotzen da ist, sondern um etwas damit zu machen. Vielleicht fällt auch deshalb sein Name unter Kollegen häufiger als andere. In Westwärts 1&2 sind Gedichte, die formal höchst avanciert sind, neuartig, zumindest in der deutschen Literatur.

Margret Eicher/Dieter M.Gräf: Tussirecherche (2000)
Cover des Katalogs zur gleichnamigen Ausstellung (mit Beiträgen von M. Braun, S. Cramer, U. Draesner, B. Oleschinski, R. G. Schmidt u. a.)
Dies erklärt sich aus Brinkmanns Beschäftigung mit Beat-Poesie, durch ein Lebensgefühl, das von Rockmusik und Drogenerfahrungen berührt wird. Er sucht nach einem Auf- und Ausbruch aus einer tradierten deutschen Dichtungshaltung, jener des ‚hohen Tons’, die ihre Höhepunkte in Deutschland bei Rilke und Benn erreicht hatte und sich dann ins Gutbürgerliche zurück entwickelte. Schon bei Benn gibt es im Spätwerk, Klaus Theweleit führt das aus, auch Alltagssprache, eine nahezu jazzige Entspanntheit. Der hohe Ton jedenfalls musste konterkariert werden. Brinkmann machte die Tür auf zur Straße hin, besonders interessant finde ich seine ‚mehrspurigen’ Gedichte mit Parallelstrukturen.
Das Problem ist nur, dass sein Umgang mit diesen neuen avancierten Formen ihm nicht wirklich geglückt ist. Das, was gut ‚funktioniert’ bei Brinkmann sind relativ konventionelle Gedichte, wie „Die Orangensaftmaschine“. Man kann diese und andere Gedichte aus Westwärts 1&2 natürlich auch in der amerikanischen Tradition eines William Carlos Williams oder eines Frank O´Hara sehen. Dennoch bleibt es nah an unserem tradierten Lyrikbegriff, jedenfalls hat es nichts Verstörendes. Die formal avancierteren Gedichte jedoch zeigen Möglichkeiten auf, die nicht eingelöst werden.
Dies macht Brinkmann für mich zu einer Übergangsfigur. Er passt gut ins demokratische Zeitalter und zu keinem Denkmal. Er hat viele Schwächen, aber bei alldem ist er einzigartig, wie jeder Mensch, der seinen eigenen Ton anstimmt. Das kann jeder, eigentlich, aber wenn es einer macht, dann ist das vollkommen. Brinkmann war vollkommen, wie ein Teegefäß. Da ist Glasur herunter gelaufen auf die Scherbe, aber das hat so zu sein.■
Lesen Sie hier das vollständige Gespräch mit Dieter M. Gräf
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Eine französische Übersetzung des Gesprächs ist zuvor erschienen als „’Chacun est son île‘. Entretien avec Dieter M. Gräf“. In: Chemin des livres (Nr. 22-23, Dezember 2011). Evian: éditions alidades 2011, S. 6-35 [Doppelheft zu Gräf und Brinkmann]. Das Inhaltsverzeichnis des Heftes sowie meine Einführung zu Gräf können Sie hier herunterladen → Download [1,5 MB] │ → Bestellmöglichkeit auf der Verlagsseite
Zur Person
Dieter M. Gräf, geb. 1960, lebt als Dichter und Projektkünstler in Berlin. Stipendien, Förderpreise, Preise, u. a. das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium der Stadt Köln (1995). Gedichtbände in Deutschland (Suhrkamp, FVA), USA (Green Integer), Kroatien (Durieux/P.E.N.) und Frankreich (Alidades), Kataloge in Deutschland (Wunderhorn) und China (Three Shadows Photography Art Centre). Zuletzt erschien 2008 die Gedichtsammlung Buch VIER. Seit jenem Jahr fotografiert er auch und zeigt hierauf basierend seit 2014 mit Nina Zlonicky entwickelte Ausstellungen an der Schnittstelle von Literatur und Bildender Kunst. Siehe zum Thema auch seinen Essay „’Die Literatur muß verschwinden‘: der Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann bleibt“. In: Sprache im technischen Zeitalter (SpritZ). 2015, Vol. 53 (215), S. 347-358.
Siehe auf diesem Blog außerdem:
Dieter M. Gräf: „Vier Fragen zu Rolf Dieter Brinkmann“ → zum Fragebogen
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● Veröffentlicht: 20. Februar 2020, aktualisiert: 30.07.2025