Rolf Dieter Brinkmann 85 (Teil 4)

Eine digitale Anthologie mit Stimmen und Spuren zum 85. Geburtstag von Rolf Dieter Brinkmann. ■

TEIL 4 mit Texten, Bildern und Tönen von Jürgen Völkert-Marten, Ralf-Rainer Rygulla, Uwe Husslein, Thomas Hornemann, Adrian Kasnitz, Henning John von Freyend, Markus Fauser, Michael Töteberg, Sebastian Polmans, Hartmut Schnell und Uwe Kolbe. (Erstveröffentlichung 2020 zum 80. Geburtstag)

 

TEIL 4 (23.4.2020)
„The Last One“. Vom Ende zum Anfang und wieder zurück

Die Angaben zu den Beiträger*innen wurden 2025 aktualisiert (Stand: 04/2025).
Siehe alle Teile hier in der Übersicht.

 

JÜRGEN VÖLKERT-MARTEN

Hätte Rolf-Dieter B. am 23. April 1975 am Londoner Straßenrand in die richtige Richtung geschaut, lebte er nun (eine Symbiose aus dem alten Marlon Brando und dem alternden Wilfried Schmickler: „Aufhören, Aufhören, Herr Scheck, Frau Westermann:  Eure Literatur ist gequirlte Paviankacke!“) nahe Sherwood Forest in der Souterrainwohnung eines verbliebenen Cambridge-Festival-Freundes und würde seinen Hass auf Doitschland mit dem morgendlichen Porridge ausspucken,  bevor er überhaupt seine Dritten einsetzt, die ihm finanzstarke Anhänger aus der Alternativszene der 60er und 70er bezahlt haben. Jene hat der kapitalistische Alltag längst glatt geschliffen,  wie  uralte  Rheinkiesel.  Die meisten seiner ellenlangen Briefe nach Deutschland kommen mit dem Vermerk „Empfänger  verstorben“  zurück. Nun steht er konzentriert und geduldig und beobachtet  Leben und Vergehen im Kompost.  Eine leicht angegammelte Weintraube darin wirft seine Gedanken über fünfzig Jahre zurück und er denkt

An einen hellgrünen Luftballon

Dieser Ballon reizte immer wieder,
ihn wie einen
superleichten
Ball zu treten.
Der Salamander, der auf
ihm für Schuhe werben sollte,
riss die Arme hoch,
wie bei einem Torschrei,
obwohl ihm bei der Spielerei
sehr oft in die Fresse getreten wurde.

Jürgen Völkert-Marten (*1949) ◊ Schriftsteller → zum Fragebogen
Zuletzt erschienen: Das Glück. Gedichte. Grafiken von Werner Ryschawy. Gelsenkirchen: aer radix Privatdruck 2020. ■ Weitere Infos: Autorenprofil auf liton.nrw

 

AUS DEM ARCHIV

Uwe Husslein, Brinkmann & die Popliteratur
Die umfangreiche Ausstellung „Außerordentlich und obszön – Rolf Dieter Brinkmann und die Popliteratur“ zeigte vom 29. September bis 19. November 2006 den Dichter im Kontext von Zeitgenossen und Nachfolgern, flankiert von Lesungen, Filmvorführungen und Konzerten. In den weitläufigen Kellergewölben der ehemaligen Getreidespeicher am Kölner Hafen/Bayenwerft (ab 1987 zum Künstler- und Kulturzentrum Kunsthaus Rhenania umgewandelt) präsentierte sie materialreich auch Brinkmanns Bedeutung als Katalysator für die Verbreitung des angloamerikanischen Pop und Underground in Deutschland → Broschüre zur Ausstellung (PDF-Download). In einer Führung von rund einer Stunde Dauer führt Kurator Uwe Husslein 2006 kompetent und eloquent durch die reich bestückten Ausstellungsräume und erzählt zahlreiche Geschichten aus der Kölner Szene sowie zu Brinkmanns Laufbahn als Autor.

Uwe Husslein führt durch die Ausstellung (Auszug). ■ Das vollständige Video (57:00 Min.) gibt es auf Youtube.

Uwe Husslein ◊ Pop-Archivar, Autor, Kurator
Zuletzt erschienen: Pop am Rhein. Hrsg. von Uwe Husslein. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2008. [= Katalog zur Ausstellung „Pop am Rhein. Strömungen in Musik, Film, Kunst und Clubkultur“. Kölnisches Stadtmuseum, 13.12.2007 – 17.2.2008] ■ Weitere Infos: Das Pop-Archiv Köln wird 10 Jahre alt (2008)

 

Alle Plakate und sonstigen Drucksachen der Ausstellung im Rhenania (2006) sowie einer zweiten Schau im Kölnischen Stadtmuseum (2008) mit Schwerpunkt auf Musik, Film, Kunst und Clubkultur in Düsseldorf und Köln wurden entworfen von Barbara Kalender und Jörg Schröder, Gründer des legendären März-Verlag, dessen erster Titel 1969 bekanntlich die Anthologie Acid von Brinkmann & Rygulla war (→  zum Blog von Schröder & Kalender). Im Rheinischen Literaturarchiv (Düsseldorf) befindet sich ein Restbestand der Ausstellung von 2008 (hier tw. online sehen).

 

THOMAS HORNEMANN

R.D.B., der mit seinen vital-sinnlichen Texten und Bild-Text-Klebearbeiten als ein Blitz in die (west)-deutsche, zumeist männlich-dominierte, intellektuell-akademische Literatur-Szene einschlug – und zum Glück bis heute dafür sorgt, dass sich diese von dem Einschlag nicht mehr erholt – polarisiert noch immer: Entweder man ‘mag’ nahezu sämtliche Texte von ihm oder schlichtweg gar nicht. ‘Dazwischen’ ist nicht möglich!

R.D.B., als sensibler Künstler (mit teilweise prophetischer Gabe) und gleichzeitig penetrante ‘Dampfwalze’, ist meines Erachtens noch immer virulent und rumort beständig zumindest in den Köpfen vieler Jung-Poeten. Er hat in vielem Recht behalten – es war sein ‘Wüten’ nicht umsonst: Die Welt ist noch chaotischer, noch höllenähnlicher, noch aussichtsloser, verzweifelter und trauriger und vor allem noch hässlicher geworden.

Unverständlich seine ‘Verteufelung’ durch Zeitungsschreiber. Größtenteils ist sein Werk dem Kanon einverleibt. Und andererseits wird noch immer an diesem Brocken herum gewürgt: wahrscheinlich der Grund für seine erstaunliche Aktualität. Dass er so leicht nicht zu verdauen ist, lässt ihn & seine Texte ‘jung’ erscheinen! Ich habe ihn als ‘Dampfwalze’, aber auch freundlich erlebt – und er konnte, was sich manche nicht vorzustellen vermögen – witzig sein und herzlich lachen.1Auszug aus dem Fragebogen von Thomas Hornemann auf diesem Blog.

Thomas Hornemann (*1943) ◊ Maler → zum Fragebogen
Gemeinsam mit Berndt Höppner und Henning John von Freyend gründete er 1969 das Künstlerkollektiv EXIT (mit Galerie). Weitere Infos: thomas-hornemann.de

 

„Mir gefällt der Tonfall in seinen Texten.
Die Sehnsucht nach dem Glück,
die sich im Dreck der Stadt spiegelt.“
(Adrian Kasnitz)

 

Adrian Kasnitz und Roberto Di Bella sprechen über Brinkmanns Spuren in der deutschsprachigen Literatur. Literarische Soirée zum 75. Geburtstag von Rolf Dieter Brinkmann, 12. Januar 2015, Literaturklub Köln.

 

ADRIAN KASNITZ

rdb80

komm ein stück mit durch die richard-wagner-straße
bis zu der brücke wo es nach taube riecht

setz dich eine weile ins licht am künstlichen teich
den sie hier anders nennen

mit aussicht auf sülz, melaten

Adrian Kasnitz (*1974) ◊ Schriftsteller, Herausgeber, Verleger → zum Fragebogen
Zuletzt erschienen: Kalendarium #9. Gedichte. Köln: parasitenpresse 2024. Weitere Infos: adriankasnitz.wordpress.com

 

 

Einladungskarte zur Eröffnung der Kölner Galerie „EXIT. Bildermacher“ am 13.12.1969. Dem Entwurf zugrunde liegt das Gemälde „Brinkmanns Hemd“ von H. John von Freyend. Zu dessen Geschichte siehe hier und hier // Zum Vergrößern anklicken.

 

HENNING JOHN VON FREYEND

Das sind einige Szenen, die ich mit Rolf erlebt habe. Ich habe das gemalt. Die Malerei ist für mich Fluch und Segen zugleich. Aber ich liebe sie. (Henning John von Freyend)

Henning John von Freyend (*1941) ◊ Maler → zum Fragebogen
Gemeinsam mit Berndt Höppner und Thomas Hornemann gründete er 1969 in Köln das Künstlerkollektiv EXIT – Bildermacher (bis ca. 1972). Freyends umfangreiche Korrespondenz mit Brinkmann (bislang unveröffentlicht) wurde 2017 durch die „Arbeitsstelle Rolf Dieter Brinkmann“ (Universität Vechta) als Vorlass erworben. Weitere Infos: henningjvfreyend.com

 

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MARKUS FAUSER

Der berühmteste Vechtaer war ein bedeutender Dichter des 20. Jahrhunderts. Die Brinkmann-Forschungsstelle der Universität Vechta hat durch jüngste Neuerwerbungen aus bislang unveröffentlichter Korrespondenz aus dem Jahr 1958 Kenntnis gewonnen über das letzte Jahr in seiner Heimatstadt und die gescheiterten Versuche am Beginn seines Berufslebens.

Aus den über neunzig Briefen und Postkarten, die Rolf Dieter Brinkmann zwischen 1958 und 1960 an die „Liebe Lis“ nach Vechta schrieb [d.h. seine Jugendliebe Elisabeth Zölllner, geb. Piefke, Anm. R. Di Bella] – mit großen Hoffnungen, die sie allesamt enttäuschen musste – kommt uns ein überaus belesener, sehr gut informierter und geradezu vom Schreiben besessener Autor entgegen. Er kompensierte die schlimmsten Erfahrungen, den frühen Tod der Mutter 1957 und die dann einsetzenden schulischen Probleme, mit der entschiedenen Hinwendung zur Literatur und bildenden Kunst. […]

Eine unruhige Phase, ein Jahr voller Unordnung und Leid wegen der gescheiterten Pläne liegt [Ende 1958] hinter ihm, ein getriebenes Dasein voller Selbstzweifel – auch davon sind die Briefe voll – und dazwischen entstehen Dutzende von bisher völlig unbekannten Gedichten und Abhandlungen über Kunst und Schönheit. Ein umfangreicher Schatz an Lektüren und Texten, ein überzeugendes Dokument rastloser Produktivität. Die sollte ihm in Zukunft erhalten bleiben.

Ja, zugegeben: Er wurde lange Zeit ausschließlich als Radaubruder wahrgenommen. Dazu hat er sicher genauso viel beigetragen wie die nicht selten einseitigen Berichte einiger, oft späterer Zeitgenossen. Aber wenn wir jetzt den verborgenen Teil seiner Lebensgeschichte studieren, wenn wir die Stimmen enger Bekannter aus der unmittelbaren Umgebung in Vechta heute hören, dürfen wir getrost alles vielschichtiger sehen.

Wir lernen einen überaus sensiblen, witzigen und neugierigen jungen Vechtaer kennen, über beide Ohren verliebt und auf der schwierigen Suche nach seinem Weg in die Welt. Wenn ihm auch nur wenig Zeit dafür blieb: Er hat ihn gefunden!2Auszüge aus Markus Fauser: „’Ick hew ok mordsradau mokt! – Dat mäkt nix!‘ Am 16. April wäre Rolf Dieter Brinkmann 80 Jahre alt … Continue reading

Markus Fauser (*1943) ◊ Literaturwissenschaftler, Leiter der Arbeitsstelle Rolf Dieter Brinkmann (Vechta). ■ Zuletzt erschienen: Rolf Dieter Brinkmanns und die Religion. Göttingen: Wallstein Verlag 2022. Weitere Infos: Universität Vechta

 

„Ein Buch ist aus Ihrem Gedichtmanuskript
auf keinen Fall zu machen“
(H. M. Enzensberger, 19. Mai 1961)

 

MICHAEL TÖTEBERG

Vorbemerkung (R. Di Bella): Als Rolf Dieter Brinkmann 1965 dank Dieter Wellershoff  seine erste verlegerische Heimat bei Kiepenheuer & Witsch findet, hat er bereits seit Ende der fünfziger Jahre seine Fühler zu anderen Verlagen ausgestreckt, so u.a. Suhrkamp und Rowohlt – jedoch damals ohne Erfolg. Michael Töteberg, viele Jahrzehnte später für sein posthumes Werk bei Rowohlt zuständig, ist ins Deutsche Literaturarchiv Marbach gereist, um in den dortigen Beständen von Suhrkamp und Rowohlt zu recherchieren. Auf diesem Blog gibt er einen exklusiven ersten Eindruck seiner spannenden Spurensuche, welche durch die Corona-Krise abrupt unterbrochen wurde.

Am 6. Januar 1958 schickt Brinkmann, Vechta/Oldenburg, Kuhmarkt 1, an Peter Suhrkamp eine Gedichtauswahl. Im Begleitbrief bezieht er sich auf ein Schreiben von Manfred Hausmann vom 9. Mai 1957, aus dem er ausführlich zitiert:

„Wenn das Schaffen ein Kriterium ist, dann allerdings sind die Verse, sind diese weggeschlenkerten Blutstropfen, sind diese verlorenen Rhythmen, sind diese Spiegelblitze, sind diese Rätselworte, sind Summen aus zusammengepreßten Lippen, sind diese Fetzen aus Gestöhn, diese Fetzen aus Gesichter, sind diese lautlosen Rufe nach ein bisschen Liebe, sind diese tiefgläubigen Gebete (die wahre Gläubigkeit, d.h. das erschütterte Zurücktaumeln vor der Wirklichkeit Gottes, äußert sich heute vermutlich in ‚Ungläubigkeit‘ und ‚Protest‘) gute, hervorragende, ans Genialische grenzende Gedichte“

Negatives Votum von Peter Rühmkorff (13. März 1959) zum Lyrikmanuskript „Der tote Frühling“. Quelle: Rowohlt-Bestand im DLA. Zum Vergrößern der Ansicht anklicken.

Brinkmann möchte selbst nichts dazu sagen, fühlt sich aber bemüßigt zu Seiten langen Ausführungen: „Natürlich können wir schon wieder gute Butter kaufen für harte D-Mark, natürlich gibt es Fernsehen, Rundfunk, Nylonstrümpfe, Bars, Sekt … ETC. ETC. – aber können wir auch Werte kaufen -: drei D-Mark das Pfund??? — Ich, Diether Brinkmann (geb. 1938), habe all das nicht mehr genau in Erinnerung, ich bin Kriegsware, billiger Plunder, aufgewachsen in einer Zeit, die keine Zeit ist! (oder sollte ich sagen -: WAR?) Meine Generation kann nur das notieren, was die gegenwärtige Zeit zu sagen hat, was sie uns anzubieten hat -: NICHTS! Als nur das einzige Erlebnis -: Heimatlosigkeit, – und ich meine damit nicht die äußeren Gegebenheiten. – Ach, und was DAS für einen Jugendlichen heißt, wer vermag das zu verstehen? – Man schreit immer nach uns, wer (WER?) aber hört denn schon unsre Stimme?“

Walter Boehlich, Cheflektor im Suhrkamp Verlag, schickt die Gedichte am 20. Februar 1958 zurück. Er lehnt ab, weil er „einerseits wirklich poetische Aussagekraft vermißt, anderseits aber zu deutlich Vorbilder hindurchschimmern“ (vor allem, aber nicht ausschließlich Gottfried Benn). Brinkmann möge doch zunächst versuchen, Gedichte in Zeitschriften zu veröffentlichen „und sich erst dann wieder an einen Verlag zu enden, wenn Sie diesem eine Auswahl anbieten könnten“.

Dies macht Brinkmann drei Jahre später, wieder kassiert er eine Ablehnung von Suhrkamp. Diesmal schreibt  Dr. Hans Magnus Enzensberger am 19. Mai 1961. „Ein Buch ist aus Ihrem Gedichtmanuskript auf keinen Fall zu machen“, befindet er. „Dazu ist das, was Sie uns geschickt haben, zu dünn, nicht nur im Sinne des Quantitativen. Sie tasten überall herum, keineswegs ahnungslos, im Gegenteil. Ein Zeitschriftenherausgeber könnte sicher zwei oder drei brauchbare Stücke in dem Manuskript finden.“ Abschließend gibt er dem Autor noch einen Rat: „Geduld und eine Menge Arbeit, Bücher sind eine lange und harte Sache, Flair allein tut es nicht.“

Weitere Auszüge aus diesem Rechercheprojekt → hier lesen

Michael Töteberg (*1951) ◊ Filmwissenschaftler, Herausgeber, Leiter der Rowohlt Agentur für Medienrechte (1994-2017).
Bei Rowohlt betreute er (in Zusammenarbeit mit Maleen Brinkmann) alle seit 1999 erschienenen Publikationen von Rolf Dieter Brinkmann: von Briefe an Hartmut (1999) über die erweiterte Neuausgabe von Westwärts 1&2 (2005/2025) bis zu vorstellung meiner hände (2010). Zuletzt erschien (gemeinsam mit) Alexandra Vasa: Ich gehe in ein anderes Blau. Rolf Dieter Brinkmann – eine Biografie. Hamburg: Rowohlt 2025. Weitere Infos: Wikipedia

 

„Und hätte ich es wissen können, dass alle, /
ich sage: alle abschrieben bei Brinkmann, /
mit siebzehn?“ (Uwe Kolbe)

 


TONCOLLAGE ZU ROLF DIETER BRINKMANN (2)

Mit Zitaten von Ingeborg Middendorf, Adrian Kasnitz, Ralf Rainer Rygulla, Richard Wagner und Jan Volker Röhnert, entnommen aus Beiträgen dieses Blogs sowie dem Buch too much. das lange Leben des Rolf Dieter Brinkmann (1994/2000) und eingesprochen von Valérie Schmitt. → zu Ton-Collage 1

 

RALF-RAINER RYGULLA

Flamingo Club, Wardour St., Soho, London.
Links ich, und wenn ich das nicht war, so hätte ich es sein können.

1965, beim ersten Besuch Rolf Dieter Brinkmanns waren wir hier bei einem Desmond Dekker Konzert und haben gut abgetanzt.

Eine Reminiszenz zu seinem Todestag, heute vor 45 Jahren.3Zu Brinkmanns Besuchen in London siehe auf diesem Blog den ausführlichen Bericht des Londoner Germanisten Dr.  Andreas Kramer in der Reihe … Continue reading

Frankfurt, 23. April 2020

Ralf-Rainer Rygulla (*1943) ◊ Schriftsteller, Musiker, Herausgeber, u.a. Fuck You! Underground Gedichte. Darmstadt Melzer 1968; mit Rolf-Dieter Brinkmann: Acid. Neue amerikanische Szene. Darmstadt: MÄRZ 1969. ■ Zuletzt erschienen: R.-R. Rygulla, Rolf Dieter Brinkmann: Frank Xerox’ wüster Traum und andere Kollaborationen [1969/70]. Illustrationen von Berndt Höppner. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von R.-R. Rygulla. Anmerkungen von Michael Töteberg. Frankfurt/Main: Axel Dielmann 2025 . ■ Weitere Informationen und Materialien zu Ralf-Rainer Rygulla

 

 

SEBASTIAN POLMANS

Cover Rom, Blicke

Entstanden 1972/73, posthum veröffentlicht 1979

Als ich im Winter 2011 in Rom gearbeitet und gelebt habe, entdeckte ich sein Buch Rom, Blicke. Es lugte ein klein wenig aus einem der Bücherregale in der Bibliothek des Casa di Goethe-Museums hervor, sodass ich schon von weiter weg das Pink vorne auf dem Einband leuchten sah. Ich war sehr froh, als ich das Buch sah und dass es solche Bücher überhaupt gibt. Ich hab’ mir das Buch für einige Wochen ausgeliehen und dachte beim Stöbern darin: „Was für ein schöner und liebender Mensch!“ Seine wütenden Sätze hatten etwas sehr Freierfindendes und Vorfühlendes. Für mein Empfinden sind seine Blicke vollgepackt mit Liebe, weil er dem Schattigsten seine Aufmerksamkeit schenkt, zum Beispiel dem Hass. So klar und mutig tun das die Wenigsten. Hass ist auch bloß Liebe, die den Weg der Freiheit nicht findet. Rolf Dieter Brinkmann hat – so zumindest hab’ ich das gelesen, was ich von ihm kenne – nach diesem Weg gesucht.


Brink
Am äußersten Rand des Dorfes, in dem ich heute lebe, im Frühjahr, wenn das Grün wieder im Saft steht, bringt ein befreundeter Bauer die Büffel zum Grasen. Ich mag den Geruch der Tiere auf der Weide. Manchmal setze ich mich zu ihnen und ruhe aus und träume. Beim Aufwachen stelle ich fest, das ist nicht der Rand des Dorfes. Ich bin mittendrin.

„Brink“ ist das englische Wort für „Rand“.

Das ist der Grund warum ich einen jungen Büffel gezeichnet habe, der auf jener Wiese lebt. Ich nenne ihn „Rolf Dieter“.

Sebastian Polmans (*1982) ◊  Autor, Illustrator, Musiker → zum Fragebogen
Zuletzt erschienen: Die Tulpe lädt zum Riechen. Gezeichnete Gedichte. Berlin: Bübül Verlag 2019.

 

 

HARTMUT SCHNELL

Rolf Dieter Brinkmanns früher Tod im April 1975 war nicht nur ein Schock für seine Familie und seine Freunde sondern auch ein großer Verlust für die deutsche Literatur. Sein Aufruf zur Besinnung in einer kapitalistisch orientierten Konsumgesellschaft, der in seinem ganzen Werk, seinen Gedichten, seinem Roman, seinen Filmen, seinen Kollagen und Aufsätzen zu finden ist, war eine Stimme, die uns nötigte, unsere Umgebung und unsere Gesellschaft mit kritischen Augen zu betrachten, und sie fordert uns auch heute noch auf, uns auf das Alltägliche zu konzentrieren und Schönheit in einem einfachen Leben zu finden.

Rolf Dieter Brinkmann ist einige Tage nach seinem 35. Geburtstag tödlich in London verunglückt und es stellt sich die Frage, was er, da wir im April dieses Jahres seines 80. Geburtstags gedenken, uns hinterlassen hätte, hätte er ihn erlebt und mit uns feiern können. Er schrieb mir noch in einer Postkarte nach der Lesung im April in Cambridge, dass er beabsichtigte eine Stellung an einer amerikanischen Universität zu finden, da ihn die ungezwungene Lebensweise in den USA so gefiel und er sich in Austin doch sehr wohl und entspannt gefühlt hatte. Welche Richtung hätten sein Leben und sein Werk hier genommen; hätte es seinen Vorstellungen entsprochen oder wäre er nach einigen Jahren in den USA enttäuscht wieder zurück nach Deutschland gezogen? ‚Keiner weiß (da) mehr‘.

Was wir aber wissen, ist dass Rolf Dieter Brinkmanns Schaffen auch 45 Jahre nach seinem Tod nichts an Kraft und Schönheit verloren hat und uns jetzt wie zuvor als Wegweiser dient.

Hartmut Schnell, sent from my iPhone, 2020-April-22

 

Hartmut Schnell (*1937, Klostermansfeld/Sachsen-Anhalt) ◊ Amerikanischer Sprachwissenschaftler und Übersetzer. Mit Rolf Dieter Brinkmann führte er, nach dessen Rückkehr aus Austin 1974/75 eine umfangreiche Korrespondenz. Brinkmanns Briefe wurden posthum 1999 unter dem Briefe an Hartmut. 1974–1975 veröffentlicht und biete tiefe Einblicke in die Poetik und Gedankenwelt des Autors. ■ Weitere Infos: Interview auf diesem Blog → zum Interview

 

Von Rolf Dieter Brinkmann kommentierter und ‚überarbeiteter‘ Schmutztitel (d.h. erste Innenseite) seines Gedichtbandes Gras (1970). Foto: Hartmut Schnell (2020)

 

UWE KOLBE

Abgeschrieben bei Brinkmann

Und hätte ich es wissen können, dass alle,
ich sage: alle abschrieben bei Brinkmann,
mit siebzehn? Ich kannte noch keine Zeile
von ihm, als das Gedicht meines Freunds
Frank-Wolf weitermachte, wusste ich nicht,
das Weitermachen war abgeschrieben.

Und als ich das erste Mal hörte,
paar Jährchen zu spät aufgewacht, vom Berg
Mont Ventoux, mal abgesehn von Petrarca,
das Foto sah: langhaarige Dichter hielten
Brinkmann in den Wind, da war er selbst,
der Wind, von ihm selbst abgeschrieben.

Und nun, in Arkadien, wusste ich schon,
wer die Piazza Bologna erfunden hatte,
besonders an einem verkaterten Morgen
in einer Bar, der Schinken vom Tramezzino
hing an einem Stück bis zum Magenpförtner,
Rom war von Brinkmann abgeschrieben.

Und als mein Freund Theo, Schweizer
nach Wahl, einmal nebenbei erwähnte,
dass Brinkmann damals in London nur
geradeaus geschaut hat statt nach rechts,
und dass es ihn auch hätt erwischen können,
war auch der Tod von ihm abgeschrieben.

April 2020


Dieses Gedicht hören

Uwe Kolbe liest sein Gedicht „Abgeschrieben bei Brinkmann“ (16. April 2020)
In der Reihe: PEN-Mitglieder lesen literarische Texte in Zeiten der Pandemie (→ mehr)

Uwe Kolbe (*1957) ◊ Lyriker, Prosaautor, Übersetzer
Zuletzt erschienen ist: Beitrag zur Anthologie Akute Routen. Poetische Positionen & Papiere zu Grenzen & Migration. 13 Autor*n aus Europa und Lateinamerika. Leipzig: hochroth 2024. Weitere Infos: Wikipedia

ROBERTO DI BELLA (Nachtrag 23.4.2025)
Der tödliche Unfall ereignet sich Mittwoch, dem 23. April 1975, gegen zehn Uhr abends im Londoner Stadteil Notting Hill. Er wollte die Westbourne Grove überqueren, eine eher schmale, aber zu dieser Zeit noch vielbefahrene Straße, um auf dem Weg zu einem italienischen Restaurant noch rasch in das Pub ‚The Shakesspeare‘ hineinzuschauen. Hierbei wurde er von einem Auto erfasst und starb noch am Unfallort. Der Fahrer beging Fahrerflucht. Brinkmann befand sich in England als Gast des internationalen Cambridge Poetry Festival, wo er bei zwei Lesungen aus neuen Gedichten vorgetragen hatte und große Zustimmung erfahren hatte. Der Lyriker JÜRGEN THEOBALDY (*1944), wie Brinkmann Teilnehmer des Festivals und mit diesem in London unterwegs, wurde Augenzeuge des Unfalls:

„Ein paar Meter hinter Brinkmann trat ich ähnlich zügig wie er auf die Straße und erschrak über einen schwarzen Personenwagen: er tauchte so plötzlich auf und glitt so nahe an mir vorbei, daß ich ihm unwillkürlich hinterhersah. In einem hellen Mantel, der fahl aus dem Halbdunkel leuchtete, das Gesicht zur anderen Straßenseite gerichtet, prallte Brinkmann gegen das Auto, dessen Fahrer weder zu bremsen noch auszuweichen versuchte.“ Er schlug mit dem Kiefer auf den Spiegel am Kotflügel, wurde vom Autor hochgeschleudert und dann auf den Asphalt zurückgeschmettert. „Er lag im Rinnstein, das eine Bein auf dem Gehsteig, das Gesicht auf der linken Seite; eine dünne Spur Blut sickerte aus dem rechten Ohr und unter der linken Gesichtshälfte rann das Blut zum Bordstein. […] ‚I think, he is dead, sagte eine Frau, die zusammen mit ihrem Begleiter hinter dahergeschlendert war und schon Sekunden nach dem Unfall neben Brinkmann niederkniete.“4Zitiert nach Michael Töteberg, Alexandra Vasa: Ich gehe in ein anderes Blau. Rolf Dieter Brinkmann – eine Biografie. Hamburg: Rowohlt (Februar) … Continue reading

Die Beerdigung fand am Samstag, dem 3. Mai 1975, auf dem katholischen Friedhof in Vechta statt. In der Oldenburgischen Volkszeitung stand eine Anzeige: „In stiller Trauer: Maleen Brinkmann, Robert Brinkmann, Therese Brinkmann als Großmutter, Paula Brinkmann, Karl-Heinz Brinkmann und Frau Ursula, seine deutschen und ausländischen Freunde.“5Zitiert nach Michael Töteberg, Alexandra Vasa: Ich gehe in ein anderes Blau, a.a.O., S. 369.

Noch im Mai des gleichen Jahres wurde Brinkmann posthum für seinen kurz davor erschienenen Gedichtband Westwärts 1&2 (erweiterte Neuausgaben 2005/2025) mit dem erstmals verliehenen Petrarca-Preis ausgezeichnet. Die Laudatio auf dem Mont Ventoux in Frankreich hielt PETER HANDKE (*1942). Die Worte hierfür hielt er nur in einem seiner Notizbücher fest, die heute in der Österreichischen Nationalbibliothek verwahrt werden. Eine davon lautet sehr treffend: „Ein Ich, das querliegt zur Welt“. Später schrieb Handke seine Laudatio als zusammenhängenden Text nieder:

„Im Vergleich zu allen subjektiven Sachen, die jetzt als Rettung der Literatur auftauchen, ist bei Brinkmann das Ich nicht gerettet. Dieses nicht gerettete, immer noch gefährdete, immer noch bedrohte, bedrängte, erschlagene Ich, das macht für mich in den Gedichten das Wahre, das Bezeichnete aus. Das andere sind Berichte, die ein- für allemal gewesen sind, aber Brinkmann weist in die Zukunft, dadurch, dass er zeigt, dass das Ich für immer gefährdet sein wird, und das Ich will nicht gerettet sein will in irgendeiner Art von politischem System.“6Peter Handke im NDR, 2.12.1979, zitiert nach Michael Töteberg, Alexandra Vasa: Ich gehe in ein anderes Blau, a.a.O., S. 371.

Rechts: Aussriss aus der BILD-Zeitung mit der dpa-Meldung vom 26. April 1975 zum Tod von R. D. Brinkmann. Bildzitat entnommen aus Frank Schäfer: Rolf Dieter Brinkmann. Ein Zettelkasten. Andreas Reiffer 2025. → weitere Informationen

 

Gemeinsame Todesanzeige der Verlage Kiepenheuer & Witsch und Rowohlt für Rolf Dieter Brinkmann. Erschienen in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel. Frankfurter Ausgabe, Nr. 35, 2. Mai 1975.

Gemeinsame Todesanzeige der Verlage Kiepenheuer & Witsch und Rowohlt für Rolf Dieter Brinkmann. Erschienen in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel. Frankfurter Ausgabe, Nr. 35, 2. Mai 1975.7Zitiert nach: Gunter Geduldig; Ursula Schüssler (Hgg.): /:Vechta! Eine Fiktion!/:. Osnabrück: secolo-Verlag 1995. Das „a“ im Hintergrund ist … Continue reading

 

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Anmerkungen[+]

Über Roberto Di Bella

Dr. Roberto Di Bella: Literaturwissenschaftler & Kulturvermittler
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