Buchhändler, Übersetzer, Lektor und Herausgeber, DJ, Clubbesitzer, Musiker und Songtexter: Im Laufe seines Lebens hat Ralf-Rainer Rygulla viele Berufe und Tätigkeiten ausgeübt. Eines bleibt jedoch über die Jahrzehnte konstant: seine Begeisterung für Lyrik. Dazu und anderen Dingen mehr äußert er sich im Interview mit Roberto Di Bella, welches hier anlässlich seines 81. Geburtstags am 6. November 2024 veröffentlicht wird.

Ralf-Rainer Rygulla (Foto: privat)
Einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde Ralf-Rainer Rygulla zunächst aufgrund seiner langjährigen Freundschaft und intensiven Zusammenarbeit mit Rolf Dieter Brinkmann. Mit ihren zwischen etwa 1967 und 1970 (gemeinsam oder auch allein) konzipierten Anthologien und Sammelbänden haben sie Impulse gesetzt, die teilweise bis heute nachwirken. Hierunter sind Fuck You! Untergrund Gedichte (1967) sowie ACID. Neue amerikanische Szene und Silver Screen. Neue amerikanische Lyrik (beide 1969) die bekanntesten Publikationen.
Was weniger bekannt ist: es ist Rygulla, der durch seinen dreijährigen Aufenthalt als Buchhändler im „Swinging London“ der 60er Jahre und die dort gemachten literarischen Entdeckungen Brinkmann für diese Texte und Autor*innen begeistert und somit den Stein für jenen vielfältigen transatlantischen Rezeptionsprozess ins Rollen bringt. Zu diesem Abschnitt seiner Vita konnte ich Ralf-Rainer Rygulla ausführlich befragen.1Anlass für das Interview – geführt im Juli 2023 in Frankfurt/Main – ist mein eigenes Buchprojekt über die Anthologie ACID, deren Entstehung … Continue reading
Was jedoch in der damaligen Zeit, angesichts der Fülle der damaligen Aktivitäten wie auch Brinkmanns Arbeitsfuror, zeitweilig in den Hintergrund rückt, ist Rygullas eigenes literarisches Schreiben, das er gleichwohl auch in den folgenden Jahrzehnte stets weiter betrieben hat. Hierum geht es in den folgenden Passagen, die zugleich den Schlusspunkt unseres Gesprächs bildeten. Sie lenken den Blick von der Zeit um 1970 (und dem Bruch in der Freundschaft zu Brinkmann) in die Gegenwart, hin zu Ralf-Rainer Rygullas eigenen aktuellen Projekten. Dafür stehen zuletzt auch die große, gemeinsam mit Marco Sagurna edierte Anthologie „Der Osten leuchtet. Poetische Töne aus Europa“ (Dielmann 2022) sowie weitere Neuerscheinungen, an denen Ralf-Rainer Rygulla mit eigenen Gedichten beteiligt ist.
Roberto Di Bella
Siehe außerdem auf diesem Blog: Bibliografie der Texte von und über Ralf-Rainer Rygulla
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Wie ging es bei dir Anfang der 70er Jahre beruflich weiter?
Nach meiner Zeit als Lektor bei MÄRZ, 1969 bis 1971, habe ich mich aus der Literatur verabschiedet, nachdem ich 1972 noch einige Bücher in freier Lektorenschaft bei Rowohlt betreut habe.2Dies waren Titel der progressiven Reihe das neue buch, die ab 1972 erscheint. Bei ihrem Ende 1986 umfasst sie 179 Einzeltitel mit Sachliteratur, … Continue reading Die Literaturszene wurde auch immer politischer, der Diskurs wurde immer politischer. Es gab kaum noch Platz für das, was ich an Texten fand. Lyrik z. B. spielte keine wesentliche Rolle mehr in den Verlagen. Es gab jedenfalls viele Gründe. Ab Anfang 1973 war ich dann radikal nicht mehr dabei.
Übrigens habe ich gerade in Brinkmanns Briefen an mich etwas wiederentdeckt, was ich lange Zeit verdrängt hatte. In unserem Briefverkehr war es ja Ende 1970 zu einem ziemlich abrupten Stopp gekommen. Aber ich habe jetzt in den Unterlagen, die nach Marbach ins Archiv gehen, einen Brief aus dem Jahr 1973 von ihm an mich gefunden, es muss nach seinem Villa-Massimo-Aufenthalt gewesen sein, in dem er ganz unverblümt fragt, ob wir uns nicht wieder annähern und zusammenarbeiten könnten. Ich hatte das in der Zwischenzeit verdrängt, weil ich das damals nämlich abgelehnt habe.3Seit August 2023 befindet sich der umfangreiche literarische Vorlass von Ralf-Rainer Rygulla im Deutschen Literaturarchiv (DLA) in Marbach/Neckar. … Continue reading
Du hast nicht auf sein Angebot reagiert?
Doch! In den Unterlagen ist sogar mein kleines Antwortschreiben von damals dabei. Ich habe seinen Vorschlag abgelehnt und ihm geschrieben: „Jetzt nicht, ich fang etwas anderes an, ich fange ein neues Leben an.“ Damals hatte ich ja auch gerade meine Zusammenarbeit mit Rowohlt beendet. Ich weiß noch, dass er auf meine Reaktion einen ironischen Brief hinterhergeschickt hat, in dem er sich über meine Formulierungen mokiert. Und das war‘s! Ich habe dann eine Kohle-machen-Phase gehabt. Ich habe 25 Jahre lang Nachtleben gemacht.
Du warst DJ und Clubbetreiber in Frankfurt.4Ralf-Rainer Rygulla zieht Ende 1969 nach Frankfurt. Nach seinem Rückzug aus dem Literaturbetrieb arbeitet Ralf-Rainer Rygulla ab 1973 zunächst als … Continue reading
„Mein lyrisches Wunschkonzert…“
DJ und Clubbetreiber… was mich nicht davon abgehalten hat, weiterhin zu verfolgen, was in der Literatur passiert, in Deutschland, Amerika und England, eigentlich immer noch vor allem in den USA. Überraschende Belletristik kommt immer noch aus den USA. Und ich habe seitdem auch immer geschrieben, in der Regel nur für mich. Ich habe so ein lyrisches Wunschkonzert, das ich immer wieder für mich selbst abhalte, aus alten Manuskriptseiten. Und ich habe inzwischen wirklich einen halben Meter an Manuskripten.
Du sagst, deine literarischen Inspirationen beziehst du bis heute weiterhin sehr stark aus den USA. Wir haben ja uns heute und gestern intensiv über ACID. Neue amerikanische Szene unterhalten, die von dir und Rolf Dieter Brinkmann 1969 im März Verlag herausgegebene Anthologie, wie auch die anderen damit verbundenen Publikationen und Aktivitäten. Was könnte denn die heutige deutschsprachige Literaturszene, was könnten heutige Autorinnen und Autoren aus Büchern wie Fuck You, ACID oder Silver Screen lernen?

„Eine Buchkritik“ von Ron Padgett, abgedruckt in ACID. Neue amerikanische Szene (1969), S. 181. Die Vorlage stammt aus der Zeitschrift Kulchur (#16, Winter 1964-65), dort ohne Überschrift.
Ich halte das Buch hier in der Hand. Beim Blättern fällt mein Blick auf einen Bild-Text mit der Überschrift „Buchkritik“ und da ist ein Nashorn abgebildet, das sich zu einem Titel äußert. Dieses Buch gefällt dem Nashorn sehr. Jetzt sehe ich, der Text zu den Bildern stammt von Ron Padgett.5Zur Rolle von Ron Padgett (*1942) als Beiträger und Multiplikator bei der Entstehung von ACID oder Silver Screen siehe seinen Erinnerungstext … Continue reading Das z.B. ist eine extrem andere Möglichkeit, mit etablierten Formen wie einer Buchkritik umzugehen. Die meisten Texte in der Anthologie sind heute, glaube ich, nicht mehr so wesentlich wichtig und neu oder überraschend. Aber ich weiß, dass darin immer noch einige Gedichte enthalten sind, die andere Möglichkeiten demonstrieren, Lyrik zu schreiben.
Du hattest da, glaube ich, ein Gedicht von Gil Orlovitz herausgesucht.
„so endet der Lobgesang auf den Hoden /
jetzt spielt mit euren eignen Eiern“ (Gil Orlovitz)
Genau, das Hodengedicht von Orlovitz. Das wäre so ein Beispiel, das sich einfach hinwegsetzt über die bekannten Muster und die akademischen Vorgaben, was ein Gedicht und eine Gedichtform leisten muss oder wie sie auszusehen hat. Das würde ich gerne vorlesen.
Es ist mit seinen fast 70 Zeilen ein sehr langes Gedicht. Aber du liest uns jetzt einen Auszug daraus. Ich sag davor nur noch kurz etwas zum Autor: „Gil Orlovitz wurde 1918 in Philadelphia geboren und diente im Zweiten Weltkrieg, er arbeitete in Hollywood als Drehbuchautor und schrieb für das amerikanische Fernsehen. Er hat sich immer für Theater interessiert und eine Reihe von Stücken geschrieben, sowie acht kleine Gedichtbände, viele Kurzgeschichten und einen Roman veröffentlicht.“6Vgl. Gil Orlowitz <bio-bibliografischer Nachweis>. In: ACID. Neue amerikanische Szene. Darmstadt: März Verlag 1969, S. 410..
So steht es in den von dir für ACID zusammengestellten „Anmerkungen, Materialien und Nachweisen“. Der Autor starb 1973 und ist heute selbst in den USA weitgehend unbekannt bzw. trotz eines vielfältigen Werks in Vergessenheit geraten. Aber dieses eine Gedicht, das hast du dir für unser Gespräch spontan aus ACID herausgesucht.7Kurze Zeit nach ACID erschien die Übersetzung seines in den USA vielbeachteten Romans Milkbottle H (1967), worauf jedoch seitdem keine weiteren … Continue reading
Ja, es fiel mir jetzt ein. Ich glaube, ich habe das damals auch übersetzt.
Richtig, du bist der Übersetzer.
Das ist also der Gil Orlowitz und der Titel heißt „Eier“.8Vgl. Gil Orlowitz: „Eier“. In: ACID, a.a.O., S. 125-127.
die überhängenden Klippen von Hoden
die Facettenhoden des Fliegenauges
der vielsprossige Hoden des Rehbocks
der mit mehrfarbigen Hoden geschmückte Weihnachtsbaum
der Zyklop mit seinem einsamen Hoden
die Stahlhoden der Abbruchkräne
die nuklearen und kosmonautischen Hoden
hast du deinen Staatshoden abgelegt […]
das Quartett für vier Hoden wird die Harmonie der Sphären spielen
Die Hoden der Schachfiguren verlangen ungeteilte Aufmerksamkeit
laßt uns alle toten Hoden vom Schlachtfeld tragen
nach allen Regeln des Hodens […]
der Starhoden der internationalen Szene
und wie ist das mit den jugendlichen Hoden mit den Pickeln
laßt uns den Osterhoden und die Auferstehung feiern
die Hoden und das jüngste Gericht
und Aufstieg und Fall des Hodens
wir sollten den Spinnenhoden bedenken
und den Ballonhoden ohne Ballast
die Hoden der guten Feen und der schlechten
der Hoden von Methusalem
und Engelshoden mit Schlagsahne
so endet der Lobgesang auf den Hoden
jetzt spielt mit euren eignen Eiern
Dem Phänomen Gedicht die Zunge zeigen
Auch dies also ist eine Möglichkeit, sich mit Lyrik auseinanderzusetzen.
Was interessiert dich an diesem Gedicht und warum ist es vielleicht immer noch anregend?
Es ist ein Gedicht, das dem Phänomen Gedicht die Zunge rausstreckt und sagt: Ich muss mich nicht bemühen, um die ausgesuchtesten Metaphern zu finden und eine Reihe von Formulierungen, die Wortkunst darstellen. Ich könnte auch sagen, dass hier die Wiederholung ihre Berechtigung hat, sei es durch die Magie der Wiederholung, sei es einfach nur dadurch, dass das Gedicht auf überkommene lyrische Kategorien keine Rücksicht nimmt. Und aus einer solchen Haltung heraus ist ein Text entstanden, den man sozusagen ‚überlesen‘ kann, den man nicht studieren muss, den man nicht zu interpretieren braucht, sondern der für sich steht und so eventuell ein bisschen Spaß macht. Ganz sicherlich hat’s dem Autor Spaß gemacht, ihn zu schreiben, da bin ich mir sicher!
Natürlich erkenne ich an, wenn sich jemand anstrengt, um eine Formulierung zu finden, die mich als Leser trifft. Aber wenn mir jemand die Zunge zeigt und zum Ausdruck bringt: „Hör mal, so geht es auch, so kann ich auch schreiben. Also mach dir nichts draus und hab keine Angst vor Lyrik. Hab keine Angst vor dieser großen Anstrengung in diesem Kunstwerk Sprache. Mach da was draus, fang einfach an, und sei es mit der Aufzählung von Hoden oder irgendetwas anderen.“ Im englischen Original lautet der Titel übrigens, etwas eleganter, „Balls“. Jedenfalls finde ich, dass dieses Gedicht auch nach all den Jahren – das Original war zuvor bereits in der US-Zeitschrift Olé erschienen – immer noch ein Statement zu Möglichkeiten des Schreibens ist, die in der Schule nicht gelehrt werden.9Gil Orlowitz: „Balls“. In: Olé #3 (1965). Hier die ersten Zeilen des Gedichts im englischen Original: „the overhanging cliffs of testicle / … Continue reading
Poetische Töne aus Ost- und Südosteuropa
Wenn du sagst, dass dich weiterhin insbesondere die US-amerikanische Literatur interessiert, so ist das nicht ganz zutreffend. Denn zumindest in jüngster Zeit hast du dich intensiv auch mit Texten beschäftigt, die aus der entgegengesetzten Himmelsrichtung stammen bzw. die im „Osten“ entstanden oder verortet sind. Gemeinsam mit Marco Sagurna, Schriftsteller, Literaturvermittler und langjähriger Freund aus Hannover, hast du nämlich eine umfangreiche Lyrikanthologie zusammengestellt. Sie trägt den schönen Titel Der Osten leuchtet. Poetische Töne aus Europa, erschienen 2022 im Axel Dielmann Verlag. Darin versammelt sind Gedichte aus 21 Ländern, die von insgesamt 93 Dichter*innen und ihren Übersetzer*innen stammen (→ Inhaltsverzeichnis). Wie kam es zu diesem Projekt?
Der Untertitel ist leider nicht ganz eindeutig. Er hätte eigentlich heißen sollen: „Poetische Töne aus Ost- und Südosteuropa“. Die Idee stammt von Marco Sagurna. Und seine Idee war es auch, mich für diese Anthologie als ‚Aushängeschild‘ mitzunehmen, weil er nämlich mit mir einen Bogen spannen wollte vom ‚Westblick‘ in den Anthologien aus den 60er Jahren, also ACID, Silver Screen oder Fuck You, hin zu einem Blick, den er vorgeschlagen hat und der sich nur nach Osten richten sollte. Marco hatte nämlich bemerkt, dass es sich dort um eine andere Art zu dichten handelt. Und ich muss sagen, ich bin ihm dankbar dafür, mich darauf hingewiesen zu haben. Ich habe das auch sofort gesehen. Es lässt sich in Osteuropa tatsächlich eine andere Haltung, eine andere Notwendigkeit für Gedichte feststellen als hier im Westen.
Ralf-Rainer Rygulla und Marco Sagurna sprechen über und lesen aus Der Osten leuchtet
Eine Sendung von Literaturradio Hörbahn in der Reihe Lyrik on Stage
Moderation: Uwe Kullnick und Axel Dielmann
(Lesung und Gespräch erfolgten als Zoom-Meeting.)
Ich zitiere einmal aus dem Klappentext. Darin heißt es: „Was an den gefundenen Texten so erstaunt, ist das selbstverständliche Dasein von Gegenwart, von Leben, Tod und Liebe. Der vitale und sprachempfindsame Umgang mit dem, was ist. Gedichte, die Wucht haben, weil es ihnen nicht reicht, sich schon an ihrer Konstruktion zu berauschen, weil sie leben.“ Trifft es das?
Das trifft es genau. Diese Formulierung stammt von mir; und darin ist noch als ganz fernes Echo etwas von dem zu hören, was auch Brinkmann und mich als Maßstab geleitet hatte. Nämlich Texte auszuwählen, die Gegenwart deutlich in sich tragen. Das war bereits eine Entdeckung bzw. ein Auszeichnungsmerkmal für jene Texte, die wir schon in den 60er Jahren gesucht haben. Und wir sind damals auf Texte, auf Textmöglichkeiten gestoßen, insbesondere in den US-amerikanischen little mags, die nicht mehr en vogue sind, die sich heute niemand mehr trauen würde, wie das Beispiel von Orlowitz‘ Hodengedicht zeigt.
Wenn ich das jetzt sage, beziehe ich mich zuerst auf die deutsche Lyrik. Die deutschsprachige Lyrik hat inzwischen eine Finesse und Kunstfertigkeit erlangt, die einen eigentlich nur noch staunen lässt. Christian Metz stellt zu Recht fest: „Deutschsprachige Lyrik hat Hochkonjunktur“. Sie bringe die ausgesuchtesten Metaphern und spektakulärsten Formulierungen hervor, Wortkunst im hochakrobatischen Sinne. Das ist deutschsprachige Lyrik, und ich selbst lese sie mit großer Lust.
Wer ist Christian Metz?
Christian Metz ist so etwas wie der neue Erklärbär der deutschen Lyrikkritik und -theorie. Sein Buch Poetisch denken (2018) solltest du einmal in die Hand nehmen. Auf den über 400 Seiten geht es in erster Linie um die Gedichte von Monika Rinck, Jan Wagner, Ann Cotten und Steffen Popp. Alles großartige Autorinnen und Autoren, bei deren Lektüre man aber auf Anhieb erkennt: Hey, das ist Lyrik und nichts anderes! Das wäre auch Lyrik, wenn die Texte im Blocksatz gedruckt würden (lacht).
„Narration darf es in der deutschsprachigen Lyrik
nicht mehr geben.“
Was aber Marco Sagurna und ich entdeckt haben, in Ländern wie Belarus, Aserbaidschan und Russland, in Rumänien und Bulgarien sowieso, sind Texte, die etwas mit dem Überleben der Autorin oder des Autors zu tun haben. Es sind sehr oft existenzielle Texte. Wir hatten bei einigen Autoren manchmal das Empfinden, dass sie schreiben müssen, dass sie das so schreiben mussten. Dazu gehört natürlich auch eine Erzählhaltung, die hierzulande inzwischen total verpönt ist. Narration darf es in der deutschsprachigen Lyrik nicht mehr geben bzw. sie wird dann als minderwertig kategorisiert.
Nicht so in Osteuropa. Da werden Dinge erzählt: Es wird erzählt, dass dein Freund dich verlassen hat und wie du leidest und dasitzt und versuchst, ein Gedicht zu schreiben, das dein Leiden ausdrückt – und vielleicht mildert. Solcherart sind die Wünsche eines Liebesgedichts aus, sagen wir, Georgien. Solche Gedichte finde ich nicht mehr in Deutschland. Und solche Entdeckungen in ausländischer Literatur zu machen, war spannend. Marco und ich haben zwei tolle Jahre mit Lesen verbracht; zuerst von Büchern, sodann, nachdem die Kontakte mit den Autorinnen und Autoren entstanden, von immer mehr Originalmanuskripten. Es war insgesamt eine sehr, sehr erfüllende, spannende und erfreuliche Lesezeit.

Ralf-Rainer Rygulla und Marco Sagurna arbeiten an Der Osten leuchtet (Foto: Privat)
Euer Buch ist im vergangenen Herbst erschienen, war aber natürlich von langer Hand geplant. Was ihr nicht vorhersehen konntet, war der Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022. Hat das dem Buch noch mal eine besondere Aktualität verliehen? Konntet ihr überhaupt noch darauf reagieren?
Es war die Zeit, in dem das Buch zum Verlag ging, also schon in Teilen bei Axel Dielmann lag. Ja, wir konnten im Vorwort noch auf den Krieg hinweisen. Aber das Verrückte und Interessante ist, dass wir nach dem Februar ‘22 viele der ausgewählten Texte nochmals ganz anders gelesen haben, wir als Herausgeber. Plötzlich entdeckten wir, dass Gewalt, Gefahr und die Angst vor Gewalt ein häufiges Motiv der Texte ist. Kriegshandlungen kommen zwar nicht darin vor, wohl aber die gesellschaftliche Möglichkeit von anderen Konflikten als nur poetischen und literarischen. Das steckt in so vielen Texten und das ist erstaunlich!
Und so hat das Buch, vor dem Hintergrund des Krieges gelesen, von uns unbeabsichtigt eine ganz besondere Aktualität erhalten. Es gibt Texte darin, die sich als Kommentare zu dem lesen, was wir tagtäglich in den Nachrichten hören, von Berichten aus der Ukraine. Und viele der anderen Länder, die wir im Buch versammelt haben, sind ja ebenfalls betroffen, mittelbar bis unmittelbar. Auch das ist in unserem Sammelband enthalten. Und ich warte noch darauf, dass der Band von jemandem entdeckt wird, dass unsere Anthologie endlich von der Literaturrezensionsindustrie entdeckt wird. Das ist bis jetzt noch nicht geschehen. Was ich bisher gesehen habe, sind mehr journalistische Hinweise als „Rezensionen“. Ich kenne jedenfalls keine Besprechung des Buches, die auf die Eigenheit der Texte eingeht, sie literarisch evaluiert, sie geopolitisch einordnet – im Vergleich zur hiesigen aktuellen Poetik.10Weitere Informationen und Pressestimmen zum Buch gibt es auf der Website des Axel Dielmann Verlages sowie bei Marco Sagurna.
„In der Volksschule in Höxter war ich der ‚Polacke‘.“
Ein persönliches Detail möchte ich noch ansprechen, deine Biografie und Herkunft betreffend. Du heißt „Rygulla“ mit Nachnamen und bist geboren 1943 in Oberschlesien, im heutigen Katowice, deutsch Kattowitz.
Genauer gesagt in Laurahütte, einem Vorort. „Siemianowice Śląskie“ heißt es jetzt auf Polnisch, Laurahütte zu deutschen Zeiten.11Die kreisfreie Stadt liegt etwa sechs Kilometer nördlich von Katowice im Oberschlesischen Industriegebiet. Die Stadt entstand 1927 durch den … Continue reading. In Laurahütte gab es ein Außenlager des KZ Ausschwitz. Das befand sich in unmittelbarer Nähe zu meinem Geburtshaus. Nach Kriegsende wurden in demselben Lager Wehrmachtsangehörige interniert, unter anderen auch mein Vater. Ich erinnere mich, wie meine Mutter mich viele Male zu dem hohen Stacheldrahtzaun mitnahm und wenn sie meinte, ihn entdeckt zu haben, dann musste ich ausgiebig winken, obwohl ich nicht wusste, nicht wissen konnte, welcher Mann gemeint war.
Du hast bis zu deinem 6. Lebensjahr in Laurahütte gelebt, bist dort sogar zweisprachig aufgewachsen, wie du mir erzählst hast. War also die Arbeit an Der Osten leuchtet, die Lektüre dieser vielen Gedichte bzw. Autor*innen, von denen ja auch einige aus Polen stammen, für dich zugleich eine Reise in die eigene Vergangenheit?
Nein. Leider war es in den 50er Jahren so, dass man damals die Chance des zweisprachigen Aufwachsens nicht erkannt hat. Als ich im September 1950 nach Westdeutschland kam, nach Höxter an der Weser, wurde ich dort sofort eingeschult, in die Volksschule, wie das damals hieß. Da war ich der „Polacke“ und meine Eltern haben das natürlich registriert. Wahrscheinlich haben sie selbst auch solche Bemerkungen gehört, so dass sie mir rasch verboten, weiter Polnisch zu sprechen. Meine Eltern habe ich zwar weiterhin gelegentlich auch Polnisch reden können. Mir hingegen wurde es verboten und deswegen bin ich auch nie dazu gekommen, Texte in dieser Sprache zu lesen. Nein, das hatte überhaupt keine Auswirkungen auf das Buch.
Neue Gedichte und Bilder vom Herbst
Zum Abschluss möchte ich kurz auf eine weitere aktuelle Lyrikanthologie zu sprechen kommen. Herausgegeben wurde sie ebenfalls von Marco Sagurna, die zahlreichen Fotografien darin stammen von Willi Rolfes. Der Titel: laub ist ein geruch. es ist ein flirren. Es handelt sich um eine Sammlung mit zeitgenössischer deutschsprachiger Herbstlyrik. Ein umfangreiches Buch, in dem auch du mit drei Texte vertreten bist.
Zuerst konnte ich mit dem Thema nichts anfangen. Aber dann habe ich mich doch dazu entschlossen. Ich habe also Marco drei Gedichte geschickt, eigentlich damit er eines davon auswählt. Aber er hat gleich alle drei in den Band aufgenommen.
Du hast mir im Vorgespräch gesagt, das seien die ersten Gedichte von dir, die gedruckt wurden.
Außer meinen Songtexte, ja.
Richtig. Das muss an dieser Stelle natürlich noch erwähnt werden. Gemeinsam mit dem Österreicher Heinz Felber hast du in den 80er Jahren das Musikprojekt Molto Stuhl ins Leben gerufen. Ihr habt zwischen 1982 und 1987 zwei Alben veröffentlicht – oder waren es drei?
Zwei LP und eine EP, so hieß das damals noch, als es Vinyl gab. Sagen wir also zweieinhalb Alben.
Der Song „Die Qual der Belgier“ (2:58) aus dem gleichnamigen Studioalbum (1987)
Text: Ralf-Rainer Rygulla; Gesang: Ralph Mangelsdorff
Video produziert von Moltostuhl & Ulli Gehner (2011)
Darsteller: Julia Engelhard & Ralf-Rainer Rygulla
Und daraus hast du später die Songtexte separat als kleines Heft veröffentlicht. Die Qual der Belgier (1989), so der Titel. Aber deine Gedichte in der Anthologie mit Herbstlyrik sind also die ersten drei, die ganz eigenständig da stehen?
„mein Steinpilz ist rot fliegenpilzrot /
mein Erinnerungsosten ist nebelfrei“
Ich sehe mich in diesem Buch tatsächlich das erste Mal als Dichter gedruckt – Gott, welch ein Wort! Darin hat er so einige Autorinnen und Autoren versammelt, der gute Marco. Zusammen mit den Bildern von Willi Rolfes ist es ein regelrechtes Coffee Table Book geworden.
Wer sonst ist in dem Buch vertreten?
Hans-Ulrich Treichel zum Beispiel, ich dachte, der schreibt nur Prosa. Außerdem Ron Winkler, Dieter M. Gräf, Judith Hennemann, Nora Gomringer und Norbert Hummelt, um nur einige Namen zu nennen. Viele Autorinnen und Autoren, die ich kenne und gerne lese. Da befinde ich mich in guter Gesellschaft, ja! Und ich bin tatsächlich überrascht, dass auch ich dazu gehöre… und das gleich mit drei Texten!
Einen davon hast du ausgesucht, um ihn zum Schluss unseres Gespräches zu lesen.
Von den drei Gedichten hat eines keinen Titel. Ich lese das titellose.
mein Steinpilz ist rot fliegenpilzrot
mein Erinnerungsosten ist nebelfrei
und der Westen ist geviertelt
nach Jahreszeit und Laufbahn
dieses Viertel ist nicht mein Viertel
aber mein Essen kann jeder essen
meine Lieblingsgans im Windschatten
der Kraniche lächelt
über die übertriebene Eleganz
ihrer Formation und es sind die Tupfer
über ihr die gegenüber dem Westen
im Pflaumenkuchenosten
wölkchenhaft golden hängen
ein Versprechen
für später immer später
es ist klar, es geht hinab
wie der Herbst der aus dem Sommer fällt
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Zur Person
Ralf-Rainer Rygulla, geb. am 6. November 1943 in Laurahütte, heute Siemianowice Śląskie, bei Kattowitz (Oberschlesien), aufgewachsen dortselbst sowie in Höxter/Weser, anschließend wohnhaft in Essen (1960-63), London (1963–66), Köln (ab 1966) und Frankfurt am Main (1969-2022). Ausbildung zum Buchhändler, Studium an der Pädagogischen Hochschule Köln, DJ, Diskothekenbetreiber, Musiker, Songtexter, Übersetzer und Lektor, Mitherausgeber von Der Gummibaum – Hauszeitschrift für neue Dichtung (1969-1970) und diverser literarischer Anthologien und Kompilationen. Zuletzt veröffentlicht er 2022 gemeinsam mit Marco Sagurna die umfangreiche Anthologie Der Osten leuchtet. Poetische Töne aus Europa, zeitgenössische Gedichte mit Wurzeln in 21 Ländern Ost- und Südost-Europas, sowie eigene Gedichte in verschiedenen Anthologien. Ralf-Rainer Rygulla lebt und arbeitet in Frankfurt/Main.
● Veröffentlicht: 5. November 2024, aktualisiert: 09.03.2025
Anmerkungen