Helmut Böttiger

Vier Fragen zu Rolf Dieter Brinkmann

Helmut Böttiger // Foto: Cordula Giese

1. Wie sind Sie auf Rolf Dieter Brinkmann aufmerksam geworden?
Mitte der siebziger Jahre gab es in jeder Groß- und Universitätsstadt einen Ableger der deutschlandweit agierenden alternativen Literaturszene, in Freiburg hatte er den Namen „Das Nachtcafé“. Dort sagte einer plötzlich: „Im Vergleich zu Brinkmann liefern wir alle nur Betthupferln!“ Brinkmanns Westwärts 1 & 2 war gerade eben erschienen. Das war die Gegenwart, die wir uns alle erschreiben wollten.

2. Welcher seiner Texte hat Ihnen am besten gefallen?
Es waren weniger die ambitionierten Collagen und vom US-Underground inspirierten Langgedichte, sondern die kleinen, zarten Gebilde, die sich wie selbstverständlich dazwischen fanden. Paradigmatisch wurde für mich „EINEN JENER KLASSISCHEN // schwarzen Tangos (…)“, wo ein überraschender sinnlicher Moment „in der verfluchten / dunstigen Abgestorbenheit Kölns“ festgehalten wird. In einem Umfeld, in dem immer noch weihevolle Natur- und Gotteslyrik dominant waren, mit einem angestrengten hohen Ton, war das ein Synonym für Befreiung – gerade in der grauen, trostlosen Geschäftigkeit des bundesdeutschen Alltags.1Das Gedicht, dessen erste Zeile zugleich der Titel ist, erschien erstmals 1975 in Brinkmanns letztem Lyrikband Westwärts 1&2. Es  zählt zu den … Continue reading

3. Was hätten Sie Brinkmann gerne noch persönlich gesagt oder gefragt?
Genau in der Phase, in der Brinkmann zu einem Kultautor wurde – nach seinem Tod 1975 – erlebte auch der gegen Ende seines Lebens fast schon vergessene Paul Celan (der 1970 den Freitod gesucht hatte) eine gewaltige Rezeptionswelle und wurde zu einer Paradedisziplin der Literaturwissenschaft. Die beiden Lyriker scheinen nichts miteinander zu tun zu haben, und doch gibt es da in der Definition des eigenen Dichtertums eine untergründige Verbindung. Ich hätte gern auch erlebt, wie Brinkmann auf eine These wie die folgende reagiert hätte: er habe vermutlich mehr mit Stefan George zu tun als mit Allen Ginsberg.

4. Ergänzen Sie bitte folgenden Satz: Rolf Dieter Brinkmann…
… hat der deutschen Literatur in den siebziger Jahren ein entscheidendes Moment hinzugefügt, von dem sie vorher gar nicht wusste, dass es existiert.


Zur Person

Helmut Böttiger, geb. 1956 in Creglingen, lebt als freier Autor und Kritiker in Berlin. Dissertation über Fritz Rudolf Fries in Freiburg. Von 1992 bis 2001 fest bei der Frankfurter Rundschau, zuletzt als verantwortlicher Literaturredakteur. Seine publizistische Arbeit wurde ausgezeichnet u.a. 2012 mit dem Alfred Kerr-Preis für Literaturkritik sowie 2013 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse für das Sachbuch Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb (DVA 2012). Zu seinen jüngsten Publikationen zählen: Wir sagen uns Dunkles. Die Liebesgeschichte zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan (DVA 2017), Die Jahre der wahren Empfindung. Die 70er – eine wilde Blütezeit der deutschen Literatur (Wallstein 2021), Czernowitz. Stadt der Zeitenwenden (Berenberg 2023) sowie Die Gegenwart durchlöchern. Beiträge zur neueren deutschen Literatur (Wallstein 2024).

Rezensionen zum Thema
Zu Michael Töteberg, Alexandra Vasa: Ich gehe in ein anderes Blau. Rolf Dieter Brinkmann – eine Biografie (Rowohlt 2025) sowie Westwärts 1 & 2. Erweiterte Neuausgabe zum 50. Todestag (Rowohlt 2025) in: taz („Der Popliterat als deutsches Genie“; 7. April 2025) → zum Artikel | Deutschlandfunk („Büchermarkt: Buch der Woche“; 16. Februar 2025) → Text des Funkbeitrags


Weitere Informationen
Autorenprofil beim Wallstein-Verlag
Übersicht seiner Beiträge für Deutschlandfunk, taz und Die Zeit
Rezensionsnotizen seiner Bücher auf perlentaucher.de

Anmerkungen[+]

Über Roberto Di Bella

Dr. Roberto Di Bella: Literaturwissenschaftler & Kulturvermittler
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