Nachruf auf Henning John von Freyend

Henning JOHN VON FREYEND ist 1969 Mitbegründer der Kölner Künstlergruppe EXIT – Bildermacher und seit diesem Jahr mit Rolf Dieter Brinkmann befreundet. Nachdem sich 1971 der Autor aus dem Literaturbetrieb zurückzieht und EXIT sich auflöst, intensiviert sich der Austausch. Für die nächsten Jahre wird Freyend für Brinkmann zeitweilig zum wichtigsten Gesprächspartner. Beide verbindet in dieser Zeit der beiderseitigen Neuorientierung auch die Auseinandersetzung mit dem, was ‚Wirklichkeit‘ ist oder sein könnte. Dies kommt am stärksten in Brinkmanns bislang weitgehend unveröffentlichten Briefe an Henning John von Freyend zum Ausdruck. Nun ist der Maler am 6. November 2025 nach kurzer, schwerer Krankheit im Alter von 84 Jahren verstorben. ♦ Ein Nachruf von Roberto DI BELLA.

Henning John von Freyend (1941-2025) // Foto: Anna Simon

2004 stieß ich im Katalog der Artothek von Erftstadt, einer Kleinstadt im Rhein-Erft-Kreis rund 50 km von Köln entfernt, zufällig auf ein Bild des Malers. Damals kannte ich seinen Namen bereits aus posthum erschienenen Briefen und Aufzeichnungen Brinkmanns aus den frühen 1970er Jahren. Ich ging der Spur nach und suchte den direkten Kontakt, arbeitete ich doch gerade an meiner Dissertation über Brinkmanns späte Prosa und Lyrik, die auch am Ursprung dieses Blogs steht. Es folgte ein langjähriger Austausch mit dem Künstler wie auch seiner Frau, der Schriftstellerin Linda Pfeiffer: intensive Gespräche am Kamin oder auf den Sommerwiesen von Sievernich, über Malerei und den deutschen Kunstbetrieb (zu dem Henning ein gespanntes Verhältnis pflegte). Für mich als Nachgeborenen besonders wertvoll waren natürlich die Berichte der beiden zu Alltag und Kultur im Köln der 60er und 70er Jahre und ihrem eigenen damaligen Lebensgefühl. Natürlich kamen wir hierbei immer wieder auch auf „Rolf Dieter“ zu sprechen.

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Künstleralltag in Sievernich:
Atelier und Galerie unter freiem Himmel
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Den 1975 tödlich in London verunglückten Freund überlebte Henning um ganze fünf Jahrzehnte. Brinkmanns radikal subjektive Position, wie dieser sie insbesondere nach 1971 entwickelt, sei dabei nach eigener Aussage auch für seine eigene Entwicklung als Künstler von zentraler Bedeutung gewesen, wie er in Interviews immer wieder betonte. Bis zuletzt blieb er produktiv, arbeitete im Grunde täglich an Gemälden und Skulpturen. Sein liebster Arbeitsplatz: der Innenbereich des Vierseitenhofs eines ehemaligen Gutsgebäudes in Sievernich, ein Ort mit nur rund 500 Menschen in der Gemeinde Vettweiß. Dort lebt Henning John von Freyend seit der Jahrtausendwende zusammen mit seiner Frau. „Die gepflasterte Fläche im Zentrum ist umringt von alten Backsteingebäuden mit kleinen Fenstern und Türen. Er arbeitet, so lange es das Wetter zulässt, unter freiem Himmel. Der Innenhof ist sein Wohnzimmer, sein Atelier und seine private Galerie.“1Markus Fauser: „Brinkmanns Briefe: eine Collage“. In: Oldenburgische Volkszeitung (30. September 2017). Das PDF des Artikels ist im vorliegenden … Continue reading So berichtet es 2017 Markus Fauser, Germanist und Brinkmann-Forscher aus Brinkmanns Geburtsstadt Vechta, von einem seiner dortigen Besuche. So erlebe auch ich es meist, wenn ich aus Köln zu Besuch kam. Der Weg bis Sievernich führt den Künstler selbst einmal quer durch Deutschland und über verschiedene auch internationale Stationen.

Foto: Roberto Di Bella

Henning John von Freyend wird am 13. August 1941 als Sohn einer großbürgerlichen Hamburger Familie geboren. Sein Vater ist der Exportkaufmann Detlev John von Freyend (1902-1970), dessen Firma im noblen Chilehaus residierte, sein Urgroßvater der Überseekaufmann, Senator und Zweite Bürgermeister der Stadt Hamburg William Henry O’Swald (1832-1925). Nach dem Abitur am Birklehof in Hinterzarten (Breisgau), einem Schwesterinternat von Salem, studiert er von 1963 bis 1968 in der Schweiz, genauer an der Kunstgewerbeschule Basel. Dazu gehört auch die Klasse „Methodik der Form- und Bildgestaltung“ bei Armin Hofmann (1920-2020), zu dem er auch Jahrzehnte später noch den Kontakt hält. Nach einem Job als Grafiker bei einer New Yorker Werbeagentur kommt Freyend schließlich 1969 nach Köln. Er überzeugt seine ehemaligen Baseler Kommilitonen Thomas Hornemann (*1943) und Berndt „Bem“ Höppner (*1942) kurz danach ebenfalls hierher zu ziehen, um gemeinsam etwas zu starten. Die Entscheidung für Köln erfolgt offenbar mehr aus Zufall denn aus Liebe, ursprünglich hatte man Mailand ins Auge gefasst. Doch die Stadt am Rhein war nicht so teuer wie die italienische Metropole und sollte sich zu diesem Zeitpunkt auch aus anderen Gründen als die richtige Entscheidung erweisen.

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EXIT – Bildermacher:
„Alles ist Kunst: Schluss mit dem Fetischismus!“
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Im April 1969 gründen sie zu dritt die Künstlergruppe EXIT – Bildermacher in Köln. Freyend ist die treibende Kraft hinter der zunächst noch sehr wagen Idee einer Zusammenarbeit. So hat er bereits ein ehemaliges Ladenlokal günstig angemietet, das dieser auch räumlich Gestalt verleihen soll. Am 19. Juni 1969 findet die Eröffnung der Galerie EXIT in der Steinfelder Gasse 24 statt.2Vgl. u.a. Ute Kaltwasser: „Drei Außenseiter bieten Kunst nach Maß. Das häßliche Köln gerade das richtige“. In: Kölner Stadt-Anzeiger. … Continue reading Im Hinterhof des innerstädtisch gelegenen Hauses richtet man sich zusätzlich eine komplette Werkstatt mit Siebdruckerei ein. Mit Plakaten, Zeichnungen und Siebdruck-Mappen propagieren die drei fortan die künstlerischen Ansätze einer von Pop Art und Comic inspirierten Ästhetik der Oberfläche. Zeittypisch ist auch ihre anfängliche Kollektivierung des Kunstwerkbegriffs. Die bewusst günstig vertriebenen Drucke und Zeichnungen werden deshalb auch nicht individuell signiert, sondern höchstens auf der Rückseite mit einem simplen „Exit, Köln“ gestempelt. Ungeniert werden dabei auch Motive von Warhol kopiert und vervielfältigt. So schmücken drei fröhlich bunte Marilyns, ‚originale‘ EXIT-Arbeiten von 1969, inzwischen mein eigenes Wohnzimmer.

Doch nehmen die Kölner Bildermacher auch Aufträge zur grafischen Gestaltung von Reklametafeln, Prospekten oder Briefpapier an: „Exit macht Ihnen Freizeit-Kunst, Büro-Kunst, Party-Kunst, Kinderzimmer-Kunst, Gute-Nacht-Kunst, Salon-Kunst, Küchen-Kunst, Tierfreund-Kunst, Intim-Kunst“. Auf dem nahegelegenen Hohenzollernring 36 beziehen die drei Künstler gemeinsam eine 7-Zimmer-Wohnung in einem Gründerzeithaus. Galerie wie Wohnung entwickeln sich mit Ausstellungen, Partys, Lesungen oder Filmvorführungen rasch zu Treffpunkten einer damals auch in Köln aufblühenden Underground- und alternativen Kunstszene. So wird die Galerie EXIT Mitinitiatorin vom Neumarkt der Künste, konzipiert als „Paralleldemonstration“ und Gegenveranstaltung zum Kölner Kunstmarkt, der seit 1967 bestehenden gewerblichen Kunstmesse. Hierfür wird ein 2000 m² großes Zelt auf dem Neumarkt aufgestellt, einem der großen zentralen Plätze der Stadt.3Offiziell veranstaltet wird der Neumarkt der Künste vom „Verein progressiver deutscher Kunsthändler“, einem Zusammenschluss von 32 Galerien, 15 … Continue reading

Bald steht die Gruppe auch in regem Austausch mit Rolf Dieter Brinkmann (1940-1975), Ralf-Rainer Rygulla (*1943) und Rolf Eckart John (1944-2015). Brinkmann und Rygulla machen zu dieser Zeit Furore mit ihren Übersetzungsanthologien zur neuen und neuesten US-Literatur im Kontext von Beat und Underground und sind im deutschsprachigen Feuilleton sehr präsent, so mit Fuck You! Underground Poems (1968) oder ACID. Neue amerikanische Szene (1969). Aber auch durch andere Aktivitäten, wie Radiofeatures und Auftritte im öffentlichen Raum, erregt insbesondere Brinkmann mediales Aufsehen.4Vgl. auch Enno Stahl: „‹Kulturkampf › in Köln, Die. XSCREEN-Affäre 1968“. In: Geschichte im Westen. Jg. 22, Essen: Klartext Verlag 2007, … Continue reading Das Bindeglied zwischen beiden Arbeitszusammenhängen bildet Linda Pfeiffer (*1948), kannte sie doch die drei jungen Literaten bereits vom gemeinsamen Studium an der Kölner PH. Zum erweiterten Kölner Kreis jener Tage zählt auch ihre jüngere Schwester, die Fotografin und heutige Filmemacherin Ulrike Pfeiffer (*1951).

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„Brinkmanns Hemd“: Einladungskarte und Gemälde. Das Gemälde (1m x 1m) entsteht Anfang 1970. Ab 1971 ist es Eigentum des Verlegers Jörg Schröder. 2020 wird es von einem Privatsammler erworben und hiernach der UB Vechta als Dauerleihgabe überlassen. (Anklicken zum Vergrößern)

Bei der Wohnungseröffnung am Hohenzollernring am 13. Dezember 1969 liest Rolf Dieter Brinkmann aus neuen Gedichten. Henning gestaltet hierzu eine Einladungskarte: Bildmotiv ist Brinkmanns grün-blaues Hippiehemd, das dieser gerade von einer seiner Fahrten nach London mitgebracht hatte. Die Karte bzw. ein kurz darauf entstandenes Gemälde in Acryl (von dem Henning noch eine zweite Version anfertigt) sind der ikonische Ausdruck einer kurzen, aber höchst intensiven Zusammenarbeit von Kunst und Literatur im Kölner Kontext. Hierfür orientiert man sich auch an Vorbildern aus den USA, wie der New York School (O’Hara, Padgett, Brainard) oder dem Black Mountain College (Olson, Creeley, Rauschenberg).

Der gut vernetzte Brinkmann stellt gleich 1969 den Kontakt zum Verleger Jörg Schröder (1938-2020) her. Dieser kauft größere Formate der EXIT-Künstler, gibt bei ihnen aber auch eine Reihe von Umschlagmotiven für Bücher seines soeben gegründeten MÄRZ Verlages in Auftrag.5Für ihren taz-Blog berichteten Jörg Schröder und Barbara Kalender seit 2006 immer wieder auch über Freyend, dessen Briefwechsel mit Brinkmann … Continue reading Auch Cover für Kiepenheuer & Witsch, Brinkmanns Hausverlag seit 1963, werden von Freyend, Höppner und Hornemann gestaltet. Die literarisch-künstlerische Kooperation zwischen EXIT und dem Brinkmann-Kreis erweist sich auch sonst zunächst als äußerst fruchtbar. Dies zeigen auch Zeitschriftenprojekte, wie u.a. der legendäre Gummibaum, Untertitel: Hauszeitschrift für neue Dichtung, zu dem die EXIT-Mitglieder die Illustrationen beisteuern.6Die erste Ausgabe von Der Gummibaum. Hauszeitschrift für neue Dichtung wird 1969 von Brinkmann, die zweite ebenfalls 1969 von Rolf Eckart John, die … Continue reading

Auszug aus einem der Skizzen- und Tagebücher des Künstler mit einer Bildercollage aus EXIT-Tagen. V.l.n.r. im Porträt: Linda Pfeiffer, Henning John von Freyend, Rolf Dieter Brinkmann. (Rolf Dieter Brinkmann-Arbeitsstelle, Universität Vechta)

„alles ist kunst […] Schluss mit dem Fetischismus! […] EXIT verwendet zum letzten Mal das Wort Kunst“ lauteten u.a. die Slogans im eigenen Manifest, das 1969 als Plakat mit Leuchtfarbe gedruckt wurde. Zu den egalitären Zielen der Künstlergemeinschaft und der Propagierung einer „wegwerfkunst“ (ebd.) ist Henning später auf Distanz gegangen. Dass hiermit auch eine Abwertung der eigenen Produktion dieser Zeit einherging, fand ich immer etwas schade. Denn die gestalterische Frische und der Witz vieler dieser Zeichnungen und Bilder überrascht bis heute. Vieles davon war natürlich auch schnöde Auftragsarbeit und dem Broterwerb verpflichtet. Doch die bewusst ausgestellte Banalität der Sujets, der nüchterne Zeichenstil, die poppige Konfrontation von ‚High und Low‘ innerhalb von Bildwelten: all dies war durchaus innovativ für den deutschen Kontext. Eine umfassende und historisch einordnende Dokumentation der Arbeiten von EXIT wie der sonstigen Aktivitäten wäre deshalb wünschenswert. Vieles jedoch ist vermutlich inzwischen verloren gegangen oder in alle Winde verstreut.

Wie lange die Gruppe tatsächlich als solche agiert, lässt sich nicht mehr genau feststellen. Die Hochphase der Aktivitäten wie auch der Zusammenarbeit mit Brinkmann und seinem Kreis liegt um 1969/70. Bereits ab 1971 jedoch zeigen sich Zeichen der Auflösung. Zu unterschiedlich werden rasch die Auffassungen über die weitere Zusammenarbeit. Brinkmann als vormals zentrale Integrationsfigur der Gruppe hat durch seinen radikalen Ausstieg aus dem Literaturbetrieb den Prozess der Desintegration vermutlich zusätzlich beschleunigt.7Im Brinkmann-Handbuch (De Gruyter 2020) wird 1971 als Jahr der Auflösung der Gruppe angegeben. Nach Auskunft von Linda Pfeiffer bestand EXIT wenig … Continue reading Vielleicht geschieht aber auch schlicht zu viel in zu kurzer Zeit. So sind bekanntlich die Umbrüche jener Jahre um 1970 in Kunst, Kultur und Gesellschaft beträchtlich, ebenso wie die Dynamik einer raschen Kommerzialisierung der gegenkulturellen Impulse durch den Mainstream. Nach der endgültigen Trennung suchen die drei Künstler jedenfalls neue eigene Wege: Höppner geht bereits 1971 zurück in die Schweiz, Hornemann zieht nach einem Zwischenspiel in der Muikszene schließlich 1974 nach Berlin. Nur Freyend bleibt zunächst weiterhin in Köln.

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Longkamp, Dezember 1971:
das Suchen, das Malen, das Schreiben
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In dieser Zeit der allgemeinen Resignation und des Rückzugs ins Private, die aber auch eine solche des Bilanzziehens und der Neuorientierung ist, wird Henning für Brinkmann zum wichtigsten Gesprächspartner. In den 70er Jahren wohnen die beiden jungen Familien zeitweilig in benachbarten Häusern auf der Engelbertstraße. Mit Brinkmann verbindet ihn die intensive Auseinandersetzung mit dem, was ‚Wirklichkeit‘ ist oder sein könnte. Deutlich wird dies u.a. in den Aufzeichnungen aus dem posthum veröffentlichten Materialband Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand. Harald Bergmanns mehrteiliges Filmprojekt Brinkmanns Zorn (2007) hat sich später intensiv auch mit diesem Konvolut beschäftigt. So trägt Teil II der Filmtrilogie den Titel „Arbeitsbücher und Collagen: Longkamp Tagebuch 1971“. Gemeint sind damit Brinkmanns Aufzeichnungen aus Longkamp, einem Ort im Hunsrück. Dorthin zieht sich der Autor für mehrere Wochen in eine alte Wassermühle zurück.

Rolf Dieter Brinkmann: „Aufenthalt in einer abgelegenen Mühle nahe Bernkastel-Kues, (ohne Wasser, elektr. Licht usw.)“. Standfoto aus Harald Bergmann: Brinkmanns Zorn (D 2007).

Seine Flucht aus dem Lärm der Stadt ist zugleich ein Abschied vom Glauben an die strukturverändernde Kraft von künstlerischer Rebellion, Pop und Underground: „Ich will aus allem raus“, lautet die Devise. Hierüber schreiben auch Michael Töteberg und Alexandra Vasa in ihrer großartigen Brinkmann-Biografie, der ersten vollständigen zum Autor überhaupt.8Vgl. das Kapitel „Ich will aus allem raus“. In: Michael Töteberg, Alexandra Vasa: Ich gehe in ein anderes Blau. Rolf Dieter Brinkmann – eine … Continue reading> Anfang Dezember 1971 stößt Henning für knapp zwei Wochen hinzu. Gemeinsam wollen sie herausfinden, was sie eigentlich wollen, in ihrem Leben, in ihrer Kunst:

Dann sprechen wir über die Motive: das Tun, das Suchen, das Malen, er kann schöne Sachen malen, beneide ich F. / und zugleich geht mir auf, daß ich ja auch schöne Dinge beschreiben könnte, und dann gerate ich durcheinander, was ist schön? Ich sehe immer zugleich auch das Häßliche in der Umgebung des Schönen./Was schreiben? Und dann ist da wieder der Zwang, das schaffen zu müssen, und zugleich wieder der Gelddruck.9Rolf Dieter Brinkmann: Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Träume / Aufstände / Gewalt / Morde. Reise, Zeit, … Continue reading

Harald Bergmann widmet sich fast siebzig Minuten lang den Gedanken, die Brinkmann in seinen sog. „Materialheften“ in jener Zeit zusammenträgt. In den Spielszenen seiner atmosphärisch dichten filmischen Rekonstruktion lässt Bergmann jene Tagebuchnotizen und Reflexionen von damals über den Bildschirm laufen. Über die Landschaften des Hunsrück und den Spaziergängen der beiden Männer hinweg, von seiner Kamerafrau Kamerafrau Elfi Mikesch in souveränen Bildern festgehalten.10Zum Filmprojekt siehe auch das ausführliche Interview mit dem Lyriker und Brinkmann-Darsteller Eckhard Rhode auf diesem Blog. Ein Jahr nach Bergmann … Continue reading

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„Deine Briefe waren alle wild, und für mich erfrischend zu lesen“
(Brinkmann an John von Freyend, 24. Mai 1972)
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Nach den Experimenten mit dem Siebdruck bei EXIT wendet sich Henning John von Freyend in den siebziger Jahren zunehmend der Ölmalerei zu, die bis zuletzt Schwerpunkt seiner künstlerischen Arbeit bleiben wird. Bereits 1970 erwirbt Reinhold Neven DuMont (*1936), seit Kurzem Eigentümer von Kiepenheuer & Witsch, eines seiner ersten Ölgemälde für den Verlag. Zu den gedanklichen Grundlagen seiner Malerei schreibt der Künstler Jahrzehnte später auf seiner Website:

Als ich in den sechziger Jahren anfing zu malen, hatte sich die Kunst völlig von den ‚basic things‘ entfernt. Für mich ging es darum, zurückzukommen zu den Ressourcen der Wirklichkeit. Ich wollte etwas zu tun haben mit der Verwirklichung meiner Person in der Realität. Das war für mich wichtig. Ich malte die Dinge so, wie ich sie sah. So hat das angefangen mit meiner Malerei. Später hat sich das dann wieder aufgelöst, dieser Fokus auf die Oberfläche der Dinge. Die Motive sind mehr und mehr in den Hintergrund gerückt. Gefühle sind da, meine Seele. Das male ich.

Henning John von Freyend: „Words could be used to lie“, Rio de Janeiro 10.1.1979, Öl auf Leinwand (92 x 101 cm)

Es ist ja mehr da, als bloß diese Oberfläche, da liegen Welten dahinter, die ich zusammen mit dem Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann erforscht habe. Diesen jahrzehntelangen Prozess habe ich täglich in Texten, Collagen, Zeichnungen, Fotos usw. festgehalten und natürlich in meiner Malerei.  Diese Raster in meinen Bildern der letzten Jahre bringen eine bestimmte Struktur in die Malerei. Diese Struktur repräsentiert mein Bewußtsein als fühlendes, denkendes und handelndes Wesen. Malerei heißt für mich nicht zuletzt: Gegenwart zerlegen.

1977 begleitete Henning Linda nach Brasilien, die dort als Lehrerin an der Deutschen Schule in Rio de Janeiro arbeitet. Als beide 1979 wieder nach Europa zurückkehren, leben sie zunächst erneut in Köln (bis 1983) und danach lange Jahre im nahen Erftstadt. 2000 ziehen sie auf den eingangs erwähnten ehemaligen Bauernhof in Sievernich, wo der Künstler seitdem auch sein Atelier hatte. Gegenüber dem bundesdeutschen Kunstbetrieb und seiner Entwicklung der letzten Jahrzehnte war Henning von jeher kritisch, verwies hierzu in unseren Gesprächen immer wieder auch auf den Essayband Die Auflösung des Kunstbegriffs (Suhrkamp 1976) des Kölner Schriftstellers Dieter Wellershoff (1925-2018), Cheflektor bei Kiepenheuer & Witsch und Brinkmanns Mentor (→ zu dessen 100jährigem Geburtstag siehe die aktuellen Features von Gisa Funck hier und hier).

So mochte sich Henning auch nie dauerhaft an eine Galerie binden, tat sich überhaupt schwer mit dem Netzwerken und Vertrieb für die eigene Malerei. Es ist vor allem seiner Partnerin zu verdanken, dass die Kontakte zur Kunstwelt nie ganz abrissen und Henning immer wieder Gelegenheit fand, die eigenen Arbeiten auszustellen und zu verkaufen (so zuletzt u.a. 2021 bei einer umfangreichen Retrospektive in Berlin). Henning John von Freyends Arbeiten befinden sich in zahlreichen privaten wie auch öffentlichen Sammlungen, u.a. der Deutschen Bundesbank in Frankfurt, dem Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf oder der Hochschule für Musik in Köln. Doch sammeln sich angesichts seiner Arbeitsdisziplin und einer unermüdlichen Produktivität im Laufe der Jahre zwangsläufig immer mehr Gemälde und Aquarelle in Sievernich an, darunter auch verschiedene beeindruckende Großformate noch aus den 70er und 80er Jahren. Dort müssen die Bilder weiterhin, unter teils problematischen konservatorischen Bedingungen, gelagert werden. Diese Problematik des Umgangs mit dem eigenen Nachlass kennen viele Bildende Künstler:innen bzw. ihre Angehörigen und sie nimmt an Bedeutung zu.

Rolf Dieter Brinkmann schreibt Henning John von Freyend am 20. April 1975 aus Cambridge, wo er gerade auf dem International Poetry Festival zu Gast ist. Nur drei Tage später wird der Autor bei einem Verkehrsunfall in London ums Leben kommen. (Rolf Dieter Brinkmann-Arbeitsstelle, Universität Vechta)

Porträts gehörten neben (Stadt-)Landschaften zu Hennings bevorzugten Sujets. Auch seinen Freund Rolf Dieter hat Henning immer wieder gemalt oder gezeichnet, zu dessen Lebzeiten wie posthum. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel von 1983 durfte ich in meiner Dissertation zeigen, in der ich auch aus Brinkmanns Briefwechsel mit ihm zitiere. Dieses umfangreiche Konvolut aus Briefen und Postkarten ist bisher leider weitgehend unveröffentlicht geblieben.11Ein längerer Brief an Freyend vom 19.9.1972 ist zuvor erschienen im Rowohlt LiteraturMagazin 36: Rolf Dieter Brinkmann. Hrsg. von Maleen Brinkmann. … Continue reading Dies könnte sich jedoch in absehbarer Zukunft ändern.

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„Wirklichkeit ist immer in Bewegung“:
die „Sammlung Freyend“ in Vechta
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2017 erwirbt die Stadt Vechta ein umfangreiches Konvolut aus dem Besitz des Künstlers. Es handelt sich dabei um zehn schwarze oder grüne großformatige Kladden, Arbeitsjournale im Sinne Brechts oder „Skizzenbücher“, wie Henning sie nannte. Anstoß hierfür ist sehr wahrscheinlich der erwähnte Aufenthalt mit Brinkmann im Hunsrück, setzen doch diese Tagebuchnotizen und Reflexionen unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Longkamp Mitte Dezember ein. Henning wird sie hiernach konsequent chronologisch bis 1975 fortführen. In die sich füllenden Kladden klebt er fortan auch alle Briefe, Postkarten und Gedichte Brinkmanns ein, die er bis 1975 von dessen Aufenthalten in Rom, London oder Austin erhält. Einer der, oftmals über mehrere Tage verfassten, Briefe Brinkmanns ist alleine fünfzig Seiten lang.

Henning John von Freyend, Tagebuch 25. Dezember 1971. Enthalten in: Skizzenbuch 1, 13.12.1971 bis 05.03.1972, S. 24. (Rolf Dieter Brinkmann-Arbeitsstelle, Universität Vechta)

Auf mehreren 100 Seiten werden die eigenen Aufzeichnungen und die erhaltenen Briefe mit privaten Fotos, Aquarellen, Zeitungsausschnitten weiter angereichert, mit dem Ziel auch der Herausarbeitung eines neu begriffenen Subjektivismus in der Kunst. Soweit ich selbst Einblick darin haben durfte, sind diese zehn Kladden, jenseits ihres Charakters als Ausdruck einer Freundschaft, zeithistorische Dokumente von eigenem Wert und auch visuell eindrucksvoll. Diese „Sammlung Freyend“ ging alsbald in den Besitz der Rolf Dieter Brinkmann-Arbeitsstelle der Universität Vechta über, welche die Kladden inzwischen digitalisiert hat und einer künftigen wissenschaftlichen Auswertung zur Verfügung stellt.12Für weitere Hinweise siehe das Video der Pressekonferenz der Stadt Vechta (29.9.2017) sowie die Website der Arbeitsstelle. Seit 2021 sind zahlreiche … Continue reading

Eine solche materielle Verschmelzung zweier so unterschiedlichen Konvolute ist eigentlich eine Horrorvorstellung für jede*n Archivar*in oder Editor*in der Texte Brinkmanns. Sie ist zugleich aber ein authentischer Ausdruck von Hennings fortgesetztem Dialog mit dem Schriftstellerfreund. Leider hat Brinkmann die ihm zugesandten Briefe offenbar nicht aufbewahrt, ebenso wenig wie z.B. jene anderer wichtigen Korrespondenzpartner wie Ralf-Rainer Rygulla oder Hartmut Schnell. Jedenfalls hat sich davon vermutlich nichts im Nachlass des Autors erhalten, der sich seit Kurzem im Deutschen Literaturarchiv Marbach befindet und zur Zeit für die weitere Auswertung aufbereitet wird. An der Universität Vechta wiederum entsteht gerade eine mehrbändige kommentierte Kritische Edition sämtlicher Briefe des Schriftstellers. Bei einem manischen Briefeschreiber wie Brinkmann ist dies ein wesentlicher Teil seines Œuvres und somit ein äußerst wichtiger Schritt für die weitere Rezeption. In diesem Rahmen ist auch die Veröffentlichung der Briefe und Postkarten an Henning John von Freyend geplant.13Diese Edition wird im Wallstein Verlag erscheinen. Der erste Teilband ist dort bereits für kommendes Jahr angekündigt. Vgl. Rolf Dieter Brinkmann: … Continue reading

Da die Edition jedoch chronologisch konzipiert ist, werden alle Dokumente zwangsläufig im Wechsel der Empfänger*innen gedruckt und somit ggf. auch auf unterschiedliche Teilbände verteilt. Dadurch wird die mehrjährige Korrespondenz mit Persönlichkeiten wie Freyend, Rygulla oder auch Brinkmanns Ehefrau Maleen – um die vermutlich drei umfangreichsten bzw. bedeutendsten Konvolute zu nennen – in ihrer Kohärenz nicht so eindrücklich zu rezipieren sein. Hier wären zusätzliche Einzelbände wünschenswert gewesen, im Falle von Henning zusätzlich mit Abbildungen seiner Werke von damals angereichert.14Für ein solches Buch hatte es vor Jahren bereits, Michael Töteberg zufolge, konkrete Vereinbarungen zwischen der Witwe und dem Rowohlt-Verlag … Continue reading Doch auch wenn sich nur Brinkmanns Teil dieses Dialogs erhalten hat, werden seine „Briefe an einen Maler“ (so Hennings treffende Selbstbezeichnung des Konvoluts) gleichwohl ebenfalls Einblicke in das Denken und Schaffen einer vielschichtigen Künstlerpersönlichkeit geben. Schade, dass er die Veröffentlichung dieser Briefe nicht mehr erleben kann – ich hätte es ihm von Herzen gegönnt!

Siegburg, im November 2025

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WEITERFÜHRENDE INFOS

Primärquellen

  • Henning John von Freyend: private Website (mit Vita, Galerie, Ausstellungsübersicht u.a.m.)
  • Henning John von Freyend: Skizzenbücher 1971-1975 → Link zum Katalog der UB Vechta (mit Details zum Inhalt der Einzelbände)
  • „’Er klapperte den ganzen Tag auf seiner Schreibmaschine.‘ Henning John von Freyend über Rolf Dieter Brinkmann“ (2003) → zum Interview auf diesem Blog
  • Henning John von Freyend: „Vier Fragen zu Rolf Dieter Brinkmann“ → zum Beitrag auf diesem Blog
  • Thomas Hornemann: „Vier Fragen zu Rolf Dieter Brinkmann“ → zum Beitrag auf diesem Blog
  • Longkamp. Hörspiel nach Tagebuchtexten von Rolf Dieter Brinkmann. Bearbeitung/Regie: Ulrich Gerhardt. Sprecher: Christian Brückner. BR 2008. Länge: 80 Min. → zur Audiodatei


Sekundärquellen

  • Chowanietz, Lars: „Rolf Dieter Brinkmanns Hemd ist in Vechta“. In: Oldenburgische Volkszeitung (16.03.2020). → zum Artikel
  • Di Bella, Roberto: „Brinkmann, Rygulla und die Praktiken der Kollaboration im ‚ACID-Komplex‘ (ca. 1967-1972)“. Vortrag auf der Tagung „Künstlerische Kollaborationen. Gruppen, Gemeinschaftsarbeiten und andere Formen kollektiver Praktiken“. Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf, 6./7. November 2025.
  • Di Bella, Roberto: „‚Break On Through (To the Other Side)‘. Rolf Dieter Brinkmanns Kölner Erkundungen zwischen Pop, Provokation und neuer Sensibilität“. In: Michaela Keim und Stefan Lewejohann (Hg.): Köln 68! Protest. Pop. Provokation. (= Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung im Kölnischen Stadtmuseum, 20. Oktober 2018 – 24. Februar 2019). Mainz: Nünnerich-Asmus 2018, S. 312–323. → Download
  • Falk, Jan: Eine kurze Geschichte von Henning John von Freyend und dem Hemd von Rolf Dieter. Regie: Axel Pleuser. Redaktion: Adrian Winkler. Erstsendung: 22. Januar 2011 (18:05 bis 18:30 Uhr). Produktion WDR 5, 2011.
  • Fauser, Markus: „Brinkmanns Briefe: eine Collage. Mehr als 40 Jahre verwahrte der Maler Henning John von Freyend einen Briefwechsel mit seinem engen Freund Rolf Dieter Brinkmann in seinen Tagebüchern: jetzt gehört die Sammlung der Universität Vechta“. In: Oldenburgische Volkszeitung (30. September 2017), 8seitige illustrierte Sonderbeilage → zum PDF
  • Fauser, Markus: „’Deine Briefe waren alle wild‘. Sagen, was ist: Unbekannte Texte, Gedichte und Collagen aus dem Nachlass des Dichters Rolf Dieter Brinkmann sind nun erstmals zugänglich“. In: FAZ (3. Oktober 2017).
  • Husslein, Uwe: Führung durch die Ausstellung Außerordentlich und obszön. Rolf Dieter Brinkmann und die Pop-Literatur. Kunsthaus Rhenania Köln, 28.9. – 19.11.2006.
    Zu sehen waren dort auch zahlreiche grafische Arbeiten von EXIT sowie Gemälde von Henning John von Freyend → zum Video (57 Min.)
  • Husslein, Uwe: „Popliteratur als visuelle Kunst: Rolf Dieter Brinkmann und die Kölner Künstlergruppe EXIT“. In: Pop am Rhein. Hrsg. von Uwe Husslein. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, S. 129-139. [Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Kölnischen Stadtmuseum, 13.12.2007 – 07.02.2008].
  • Schäfer, Jörgen: „The making of pop literature: Rolf Dieter Brinkmann und sein Kölner Freundeskreis“. In: Pop in R(h)einkultur. Hrsg. von Dirk Matejovski. Essen: Klartext Verlag 2008, S. 103-124.
  • Töteberg, Michael, Alexandra Vasa: Ich gehe in ein anderes Blau. Rolf Dieter Brinkmann – eine Biografie. Hamburg: Rowohlt 2025.

Die untenstehenden Fotogalerien zeigen a) Arbeiten des Künstlers mit Bezug zur Zeit und Person Brinkmanns, b) den Künstler im Hof seines Wohnhauses in Vettweiß-Sievernich (Porträt mit Wollmütze: A. Simon; alle übrigen Fotos R. Di Bella) sowie c) Impressionen aus seinem dortigen Atelier (Fotos: R. Di Bella). Pausieren der Diaschau durch Anklicken.

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Anmerkungen[+]

Über Roberto Di Bella

Dr. Roberto Di Bella: Literaturwissenschaftler & Kulturvermittler
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